Ärger wegen neuer Abstände entlang der Nationalstrasse
03.05.2023 Region, FrutigenDie Transitstrecke Spiez-Kandersteg ist seit 2020 eine Nationalstrasse – quasi als Ersatz für die nie erstellte Rawil-Autobahn durchs Simmental. Dieser Besitzerwechsel hat nun spürbare Folgen für einige Landbesitzer und deren Bauprojekte.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Vor Kurzem wurde der Verkauf von Gewerbeland beim Holzhangar Frutigen an der Urne bewilligt, dort soll ein neuer Gewerbepark entstehen. Gleich gegenüber steht das Werkstatt- und Betriebsgebäude der AFA AG. Das Busunternehmen hat Ausbaupläne, genauso wie die Wandfluh Produktions AG an der Parallelstrasse.
Verschiedene Frutiger Firmen expandieren, was ein positives Zeichen für die lokale Wirtschaft ist. Im betreffenden Gebiet Schwandistrasse /Unteres Widi ist deshalb auch eine entsprechende Zone geschaffen worden, um das knappe Gewerbeland effizient nutzen zu können. Noch fehlt die Anpassung des lokalen Baureglements, diese soll am 18. Juni an der Urne genehmigt werden, wie der Gemeinderat letzte Woche beschlossen hat. Damit dürften die Industriegebäude meist ein Stockwerk höher gebaut werden als bisher.
Der Bund hat andere Richtlinien
Einige der erwähnten Vorhaben könnten allerdings durch Vorschriften auf Bundesebene ausgebremst werden. Anfang 2020 ging die Zuständigkeit für die Strasse Spiez-Kandersteg vom Kanton an den Bund über. Nun sollen auch die entsprechenden Richtlinien eingeführt werden. Nationalstrassen sind jeweils in Klassen mit unterschiedlichen Anforderungen eingeteilt (siehe Kasten). Die Abschnitte Spiez-Mülenen sowie Reichenbach-Frutigen gehören zur Klasse 2, Mülenen-Reichenbach sowie Frutigen-Kandersteg zur Klasse 3.
Die Auswirkungen dieser Klassierung waren bisher gering und beschränkten sich auf grüne und orange Hinweistafeln für den Winterdienst. Wie es aber verbindliche Baulinien (Abstände) bei Gewässern gibt, existieren diese auch für Strassen. Das hat Folgen für Bauherren mit Anstoss an die Nationalstrasse – egal ob Privatpersonen oder Firmen. Konkret bedeutet dies für die Klasse 2, dass ab Strassenmittelachse 20 bis 25 Meter Abstand frei gelassen werden müssen, bei Anschlüssen wie Frutigen Nord sind 10 Meter ab Strassenrand üblich.
Weniger Bauland
Lukas Studer vom Bundesamt für Strassen (Astra) erklärt: «Bis zur rechtsgültigen Festlegung der Nationalstrassenbaulinien gelten noch die nach kantonalem Recht festgelegten Baulinien, die hier 5 Meter ab Strassenrand betragen.» Daraus folge eine zukünftige Differenz zu den heute gültigen Abständen von etwa 5 bis 15 Metern – je nach Standort.
Bei Nationalstrassen der 3. Klasse gelten dieselben Anforderungen bezüglich Baulinien, was Verkehrssicherheit, Wohnhygiene oder Ausbau angeht. Einziger Unterschied zu Klasse 2 ist der verlangte Abstand: Dieser beträgt hier 10 bis 25 Meter. Gemäss gängiger Praxis werde ein Abstand von 10 bis 15 Metern ab Strassenmittelachse angewendet, abgestimmt auf den jeweiligen Standort.
Überraschung beim Gemeinderat
Die Festlegung der Baulinien auf der gesamten Strecke Spiez–Kandersteg ist zurzeit in Bearbeitung und wird voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte öffentlich aufgelegt, wobei den betroffenen Parteien die Möglichkeit der Einsprache offensteht. Potenzielle Bauherren müssen also entweder ihre Gesuche rasch nach den heute gültigen Richtlinien einreichen – oder später allenfalls Einschränkungen in Kauf nehmen.
Frutigens Gemeinderatspräsident Hans Schmid war «sehr überrascht», als im Zusammenhang mit einer Bauanfrage ein Hinweis auf allfällige Abstandsprobleme auftauchte. Die Gemeinde sei nicht über das laufende Verfahren zur Umsetzung der Richtlinien informiert worden. Erst auf Nachfrage beim Astra sei man auf die Konsequenzen aufmerksam gemacht worden. «Es ist zwar Bundesrecht, aber wir sind enttäuscht, dass wir nicht vorher beigezogen wurden. Im Endeffekt kann es eine spürbare Wertminderung von Bauland sein, da dieses entlang der Umfahrungsstrasse nicht mehr wie bisher überbaut werden kann», so Schmid.
Die Vorgaben des Astra
Bei der Bemessung der Baulinien ist gemäss Nationalstrassengesetz namentlich auf die Anforderungen der Verkehrssicherheit und der Wohnhygiene sowie auf die Bedürfnisse eines allfälligen Ausbaus der Strasse Rücksicht zu nehmen. Wohnhygiene bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass Wohnräume ausreichend besonnt und belüftet werden können und genügend gross sind.
«Bei der vorliegenden Strecke geht es selbstverständlich nicht um die Idee einer vierspurigen Autobahn durchs Kandertal, sondern vielmehr um die Berücksichtigung anderer Bedürfnisse wie etwa Signalisationen, Leitungen und Kabel, Haltestellen- und Nothaltebuchten oder Flächen für den Langsamverkehr», betont Lukas Studer vom Astra. Bauten und Anlagen innerhalb der Baulinien dürfen den genannten Anforderungen also nicht widersprechen. Baugesuche werden wie bisher bei den entsprechenden Stellen eingereicht, sie müssen neu aber dem Astra zur Bewilligung respektive zur Stellungnahme vorgelegt werden – für Bauprojekte bedeutet dies künftig eine höhere Hürde.
Kann AFA noch sinnvoll bauen?
Welche Folgen das haben kann, zeigt das Beispiel des AFA-Projektes. Das Baugesuch wird in den nächsten Tagen erfolgen, wie Geschäftsführer Paul Graf bestätigt. Der Neubau soll flächenmässig so gross werden wie die heutige Halle und eine Busgarage, eine Werkstatt und zwei Untergeschosse mit Parkplätzen umfassen. In zwei Obergeschossen sind Lager und Büros vorgesehen, auf dem Dach zwei Wohnungen. «Wenn der Bund für die Strasse bis zu 25 Meter ab Strassenmitte reserviert beziehungsweise uns enteignet, werden wir auf der westlichen Seite des Gebäudes nicht mehr in die Halle einfahren können. Das bedeutet, dass unser Gebäude den ursprünglich vorgesehenen Nutzen nicht mehr erfüllen kann», erklärt Graf. Da das Unternehmen in Adelboden mit dem behindertengerechten Umbau des Busbahnhofs ebenfalls Busparkplätze verliert, soll ein grosser Teil der Fahrzeuge in Frutigen stationiert werden. Doch: «Wenn wir in Zukunft nicht mehr von beiden Seiten in unser Gebäude fahren können, werden wir vor grossen Herausforderungen stehen. Ich gehe davon aus, dass wir uns dann nach einen anderen Standort umschauen müssen.» Dabei würden in Frutigen ideale Voraussetzungen bestehen, mit gutem Baugrund und genügend eigenem Bauland. Bei Paul Graf und der AFA AG herrscht grosses Unverständnis, insbesondere auch, was die unterschiedlichen Einstufungen der Nationalstrasse angeht.
Klassierung von Nationalstrassen
Das Bundesgesetz über die Nationalstrassen sowie die Unterlagen des Astra umschreiben die Anforderungen der verschiedenen Klassen wie folgt:
• Klasse 1: Vier- und mehrspurige Autobahnen. Nationalstrassen erster Klasse sind ausschliesslich für die Benützung mit Motorfahrzeugen bestimmt. Sie weisen für beide Richtungen getrennte Fahrbahnen auf und werden nicht höhengleich gekreuzt. In der Regel existieren durchgehende Abstellstreifen
• Klasse 2: Nationalstrassen zweiter Klasse sind die übrigen, ausschliesslich dem Verkehr der Motorfahrzeuge offenen Nationalstrassen, die nur an besonderen Anschlussstellen zugänglich sind. Abstellstreifen sind erwünscht.
• Klasse 3: Nationalstrassen dritter Klasse stehen auch anderen Strassenbenützern offen. Wo die Verhältnisse es gestatten, sind Ortsdurchfahrten und höhengleiche Kreuzungen zu vermeiden. Keine durchgehenden Abstellstreifen.
Zu den Nationalstrassen gehören neben dem Strassenkörper alle Anlagen, die zur technisch richtigen Ausgestaltung der Strassen erforderlich sind, insbesondere Kunstbauten, Anschlüsse, Rastplätze, Signale, Einrichtungen für den Betrieb und Unterhalt der Strassen, Bepflanzungen sowie Böschungen, deren Bewirtschaftung dem Anstösser nicht zugemutet werden kann.
HSF