Als «Lothar» durchs Frutigland fegte

  26.12.2024 Region

Überraschend und mit ungeheurer Wucht zieht am Stephanstag 1999 ein Sturm über der Schweiz auf. Im Frutigland werden ganze Wälder geknickt, der Strom fällt vielerorts aus und Häuser werden abgedeckt.
Dieser Text wurde 2019 – 20 Jahre nach dem Naturereignis – erstmals publiziert.

HANS RUDOLF SCHNEIDER


Wer vor 20 Jahren Bekanntschaft mit «Kurt» macht, vergisst dieses Treffen so schnell nicht mehr. Am 26. Dezember 1999 ab Mittag wütet der Sturm – später auch in der Schweiz in «Lothar» umgetauft. Das Frutigland wird durchgerüttelt – mit entsprechenden Folgen.

Peter Rösti, damals Gemeindepräsident von Kandergrund, erinnert sich genau an diesen speziellen Sonntag im Dezember 1999. Er sitzt mit seinen Eltern beim Mittagessen, als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht. «Mein Vater sagte: ‹Da stimmt etwas nicht.› Ich dachte zuerst, er sei einfach ängstlich.» Rösti macht sich auf den Weg zur Gemeindeverwaltung, normalerweise eine kurze Fahrt – diesmal braucht er eine ganze Dreiviertelstunde.

Ein AFA-Bus auf Abwegen
«Ich hatte Todesangst und rechnete mit dem Schlimmsten», sagt Peter Rösti heute noch. Und er hat allen Grund dazu: Die Autoscheiben zerbersten unter dem Winddruck und er fürchtet, von der Strasse abzukommen. «Überall lagen geknickte Bäume, Hochspannungsleitungen waren heruntergerissen und an Häusern waren grosse Schäden sichtbar.» Zu Schaden kommt auch das stattliche und über 200 Jahre alte Becki-Haus, das Schulhaus Mitholz und die BLS-Strecke. Sofort leitet er mit dem Regierungsstatthalter Christian Rubin, der Feuerwehr und lokalen Handwerkern Massnahmen ein. Die ersten Dächer werden notdürftig abgedeckt.

Ganze Waldstücke im Kander- und Engstligtal werden in kurzer Zeit niedergemäht. Ein Bus der Automobilverkehr Frutigen-Adelboden AG (AFA) fliegt in Mitholz von der Strasse und über einen Zaun – ein 13 Tonnen schweres Gefährt. Zum Glück überlebt der Chauffeur des leeren Cars. Strassen sind gesperrt, übersät mit abgebrochenen Bäumen. In Scharnachtal wird ein Mann von einer umstürzenden Tanne erschlagen. Grossräumig fällt die Stromversorgung aus, allein im Raum Adelboden sind bis zu 100 Leute mit der Wiederherstellung des Netzes beschäftigt. Von der Elsigen-, Metsch- und Engstligenalp werden gegen 60 Personen mit Helikoptern evakuiert. Auch Lebensmittel und Notstromaggregate müssen eingeflogen werden, Soldaten werden aufgeboten.

Millionenschwere Schäden
Die Meteorologen haben die Gefahr nicht im Voraus erkannt: Aus dem Tiefdruckgebiet «Kurt» über der Bretagne entsteht am Vortag durch zunehmend warme Luft in Rekordzeit das Orkantief «Lothar». Die Böenspitzen von 250 Stundenkilometern hinterlassen in mehreren Ländern ein Bild der Verwüstung. Im Oberland kommt noch der Föhn dazu. Allein im Kanton Bern werden rund 51 000 Gebäude beschädigt. Das verursacht Kosten von 143 Millionen Franken. Kandergrund ist besonders betroffen. Laut Gebäudeversicherung beschädigt «Lothar» dort praktisch jedes zweite Haus – an 325 Häusern entstehen Schäden von 5 Millionen Franken.

Wer sich an diesen Tag erinnert, erkennt noch heute an einigen Stellen im Tal die Schneisen, die mit jungen Bäumen aufgeforstet wurden. Die Natur erholt sich aber erstaunlich gut. Auch die nachfolgende Borkenkäferplage im Fallholz, die Vermarktung des Holzes und die Wiederaufforstung fordert die privaten Waldbesitzer und die öffentliche Hand noch über Jahre hinweg.

Die Bilder in der Galerie sind nach dem Aufruf im «Frutigländer» bei der Redaktion eingegangen. Wir bedanken uns bei den Leserinnen und Lesern für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial.


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