Wie die Schulsozialarbeit im Tal Fuss fasste

  08.07.2022 Region, Bildung|Schule, Gesellschaft

SOZIALPOLITIK Sie wurde kürzlich in mehreren Gemeinden ausgebaut – die einst umstrittene Schulsozialarbeit. Wie beeinflusst das Angebot den Sozialbereich?

JULIAN ZAHND
Es war keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eine, die über Jahre erarbeitet werden musste. Das Verhältnis der Frutigländer Bevölkerung zur Schulsozialarbeit war lange Zeit gespalten. Von einer Netzwerkgruppe bestehend aus Politik, Wirtschaft, Vereinen und Kirche wurde der Nutzen dieses Angebots bereits 2011 propagiert. Demgegenüber hielt sich die Ansicht in der Gegend hartnäckig, die Schulsozialarbeit verursache bloss unnötige Kosten und befreie die Eltern von ihren eigentlichen Kernaufgaben. So ist es denn auch nicht erstaunlich, dass die Schulsozialarbeit erst im Jahr 2016 auf der politischen Agenda auftauchte – rund 15 Jahre später als beispielsweise in der Stadt Bern.

Weil man nichts überstürzen wollte, stimmten die BürgerInnen der fünf Gemeinden Frutigen, Reichenbach, Adelboden, Kandersteg und Kandergrund an ihren Gemeindeversammlungen zunächst über eine dreijährige Pilotphase ab. An den einzelnen Versammlungen machten sich zwar auch Zweifler bemerkbar. Letztlich erklärte sich die Bevölkerung aber überall grossmehrheitlich bereit, den Versuch zu wagen. Einen bleibenden Eindruck dürfte das Votum Thomas Eggers, des damaligen Thorberg-Gefängnisdirektors, an der Frutiger Gemeindeversammlung hinterlassen haben: Er befinde sich gewissermassen am Ende der Nahrungskette und bekomme es mit Fällen zu tun, die zuvor durch alle Raster gefallen seien. «Viele, die einmal im Gefängnis waren, kriegen nie mehr einen Fuss auf die Erde», so Egger. Die Einführung der Schulsozialarbeit erscheine ihm daher durchaus vernünftig – auch in finanzieller Hinsicht.

Um 57 Stellenprozente gewachsen
Die beiden Schulsozialarbeiter traten ihr jeweiliges 80-Prozent-Pensum Anfang 2017 an. Und obwohl ihr Wirken kaum in Zahlen messbar war, vermochten sie offensichtlich zu überzeugen: Die Überführung in ein ständiges Angebot war kurz vor Ende der dreijährigen Pilotphase kaum umstritten. In Kandergrund fiel der Entscheid im Juni 2019 an der Gemeindeversammlung gar einstimmig und Gemeinderat Ivo Kratzer meinte damals: «Die Schulsozialarbeiter sind aus der Gemeinde schlicht nicht mehr wegzudenken.»

Heute, fünfeinhalb Jahre nach ihrer Einführung, ist das Angebot in der Region noch tiefer verwurzelt. Die Gemeinden Reichenbach und Adelboden haben ihr Kontingent kürzlich von je 25 auf 40 Stellenprozente erhöht. Neu ist zudem auch Diemtigen im Boot. Während einer dreijährigen Pilotphase nimmt die Gemeinde 27 Stellenprozente in Anspruch. Das Angebot befindet sich somit im Wachstum, aus den anfänglich 160 Stellenprozenten sind deren 217 geworden. Auch das Team hat sich vergrössert, inzwischen umfasst es vier Personen: Jutta Mosimann und Daniel Leutwyler werden neu durch Isabelle Kühni und Karin Saurer ergänzt.

Was nützt das Angebot?
Die Zahlen, die vorliegen, klingen zunächst verheissungsvoll: Die Sozialhilfekosten und die Fallzahlen sinken in der Gegend seit Jahren. Zwar seien die Zahlen aufgrund eines Systemwechsels nicht direkt miteinander vergleichbar, sagt Markus Bieri, Leiter des Regionalen Sozialdienstes Frutigen. Die Kurve zeige aber klar nach unten. Konkrete Zahlen präsentiert hingegen Corinne Freidig vom Sozialdienst Obersimmental, wo die Schulsozialarbeit in einem ähnlichen Zeitraum wie im Frutigland eingeführt wurde. So haben sich die Sozialhilfekosten beispielsweise in der Gemeinde Zweisimmen seit 2018 halbiert, in der Gemeinde Boltigen sind sie gar auf einen Fünftel geschrumpft.

Sowohl Bieri wie auch Freidig warnen aber vor Überinterpretation. Die Entwicklungen im Sozialbereich liessen sich nie durch einen einzelnen Faktor erklären, unter anderem spiele auch die allgemeine Arbeitsmarktlage eine entscheidende Rolle. Zudem seien die Zahlen gerade bei kleinen Sozialdiensten sehr schwankend: Bereits ein bis zwei Fälle, die umfangreiche Massnahmen erfordern, könnten die Rechnung massgeblich beeinflussen.

Die Kosten sind rasch amortisiert
Dennoch bezweifeln weder Bieri noch Freidig den Nutzen der Schulsozialarbeit. Das Angebot wirke auf jeden Fall präventiv und könne schwerwiegende Fälle vermeiden. «Früher kam es bei Problemen direkt zu einer Gefährdungsmeldung, wodurch auch die Kesb involviert war. Heute können wir viel früher ansetzen und beispielsweise mit Kurzberatungen manche Probleme entschärfen», so Bieri. Finanziell lohne sich das allemal, rechnet er vor: «Eine Familienbegleitung kostet rund 60 000 Franken jährlich, eine Fremdplatzierung sogar das Doppelte.» Gemessen am jährlichen Gesamtbudget der regionalen Schulsozialarbeit in der Höhe von 240 000 Franken besagt dies: Bereits mit der Vermeidung von zwei Fremdplatzierungen pro Jahr sind diese Kosten amortisiert.

Die Schulsozialarbeit ist somit im Tal angekommen. Obwohl sie ihren Nutzen kaum konkret unter Beweis stellen kann: Die Argumente, die für das Angebot sprechen, verfingen in der Bevölkerung über die Jahre offenbar durchaus.


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