Ein Draht in die Welt mit Anonymitäts-Bonus: Die Telefonkabine war lange Zeit ein prägender Bestandteil des öffentlichen Raums. Inzwischen sieht man kaum noch welche – ausser auf der Webseite von Markus Zurbuchen aus Wengi.

BIANCA HÜSING
«Das Ende einer Ära» – Wie oft wird diese Floskel doch bemüht, wenn irgendein semi-bekannter Sportler seine Karriere an den Nagel hängt oder die örtliche Bäckerin ihren Laden schliesst? Das Ende einer Ära, die diesen Namen wirklich verdient, vollzieht sich dagegen praktisch an der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vorbei. Oder ist irgendwem aufgefallen, wie die Swisscom seit Anfang 2018 nach und nach fast sämtliche Telefonkabinen abgebaut hat – auch hier im Tal? Und Hand aufs Herz: Wer vermisst sie heute schon noch? Dabei waren sie stets viel mehr als bloss Orte zum Telefonieren.

Kommunikationstechnische Revolution
Als im auslaufenden 19. Jahrhundert erstmals öffentliche Sprechstationen errichtet wurden, kam das einer Revolution im Kommunikationswesen gleich. Statt mühsam Telegramme aufzugeben oder gar Briefe zu schreiben, konnte man dringende Angelegenheiten endlich mündlich klären. Einen eigenen Anschluss konnten sich schliesslich nur die wenigsten leisten. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Weil die Telefonapparate damals noch beim Coiffeur, in der Beiz bei den WCs oder auf der Gemeindeverwaltung standen, war es um die Privatsphäre nicht eben gut bestellt. Auch musste man sich kurz fassen, denn meistens waren die Sprech-Örtchen recht überlaufen – kein Wunder, gab es doch zunächst nur sehr wenige. Um die quasi gerade erst erfundene Telegrafie nicht zu konkurrenzieren, beschränkte die eidgenössische Telegrafenverwaltung sich zunächst auf 67 Sprechstationen (1890) und baute das Netz nur langsam aus (1910 gab es 351 Stationen).

Rückzugsort im öffentlichen Raum
Richtig Fahrt auf nahm die halb-öffentliche Telefonie erst um 1930, als die freistehenden Kabinen mit eingebautem Kassiersystem und Wählscheibe Verbreitung fanden. Meist in Plakatsäulen versteckt, hatten sie einen doppelten Vorteil: Erstens liessen sie sich als Werbeträger nutzen und nahmen dadurch keinen zusätzlichen Platz weg. Zweitens – und hierin lag wohl der eigentliche Clou – hatte man mitten im öffentlichen Raum einen ganz privaten Rückzugsort. Bis aufs «Fräulein vom Amt», das jeweils die Gespräche durchstellte, wusste eigentlich niemand, dass man gerade in dieser Säule steht und telefoniert. Bahnreisende von heute wünschen sich wahrscheinlich ab und an, ihr laut telefonierender Sitznachbar würde sich ebenfalls in eine solche Säule zurückziehen ...

Obwohl die Wände später aus Glas bestanden und zuletzt sogar ganz verschwanden, hat die Telefonkabine ihre Funktion als Ort der Heimlichkeit nie ganz eingebüsst. Paare trafen sich zum Küssen darin, Kinder trieben ihre Telefonscherze und auch ein bestimmtes Business boomte bis zuletzt: die sogenannte «Erwachsenenunterhaltung», wie die Swisscom es behutsam formuliert. Die nicht jugendfreie Nutzung brachte in den meistfrequentierten Kabinen den grössten Umsatz ein.

Fotosujet mit Seltenheitswert
Nachdem das Design der Publifone ab Mitte der 30er-Jahre weitgehend vereinheitlicht wurde, waren sie im Gegensatz zu den alten Litfasssäulen eigentlich keine besonderen Hingucker mehr. Eisen-Glas-Kästen mit abgeflachtem Zeltdach wurden nach dem Krieg flächendeckend in der ganzen Schweiz errichtet, später wurde das Eisen durch Aluminium ersetzt. Trotzdem gab es bis zuletzt auch regionale Unterschiede und stilistische Höhepunkte – etwa das 1995 lancierte, kreisrunde «Telecab 2000» mit integrierter Musikbeschallung und Farbenspiel. Doch die Nachfrage nach diesem Sondermodell hielt sich in Grenzen.

Als Fotosujet taugen die öffentlichen Telefone heute wohl nur noch wegen ihres Seltenheitswerts. Und genau das ist Markus Zurbuchen bewusst geworden, als er sein Telefonkabinenprojekt lancierte. Eigentlich war es mehr ein Zufall, dass der Software-Entwickler aus Wengi auf seinen Reisen durch die Schweiz mehrere Publifone ablichtete. Erst als er erfuhr, dass die Swisscom ab 2018 keine öffentlichen Apparate mehr unterhalten muss, ging Zurbuchen systematischer vor. «Ich fing an, gezielt nach Telefonkabinen Ausschau zu halten und die Bilder zu archivieren», erinnert er sich. «Dann wusste ich lange Zeit nicht so recht, was ich damit anstellen soll.» Er habe quasi auf den Moment gewartet, da die Kabinen nach und nach verschwanden. Ende 2018 sei es dann plötzlich schnell gegangen, inzwischen seien auch im Tal keine mehr zu sehen.

Sich der Rarität seiner Sammlung bewusst, nahm Zurbuchen Kontakt mit dem Museum für Kommunikation in Bern auf und bot seine rund 130 Bilder unentgeltlich zur Langzeitarchivierung an – eine Gelegenheit, die der Kurator nur zu gern ergriff.

«Eine Schweiz, die es heute nicht mehr gibt»
Wer heute noch ein Frutigländer Publifon zu sehen bekommen will, muss sich also schon auf Markus Zurbuchens Webseite umsehen. Der Fundus ist gross, die Unterschiede teils frappant. Während die grasgrüne Kandersteger Kabine beim Posthaus in die Wand eingelassenp ist, stehen jene in Frutigen frei – und entsprechen eher dem blau-grauen Swisscom-Standard. Das Publifon in Reichenbach musste man schon zu «Lebzeiten» mit der Lupe suchen, so versteckt war es. Heute steht nicht einmal mehr das Gebäude, an das es angebracht war – der alte Bahnhof. Doch auch der Blick auf weiter entfernte Standorte lohnt sich: So sind etwa in Chatillens oder Guarda Telefonkabinen zu öffentlichen Bücherregalen umfunktioniert worden und in Basel gab es eine moderne Version des Litfasssäulen-Klassikers.

Inzwischen hat Markus Zurbuchen sogar einen Kalender zusammengestellt – für seine Kunden, aber auch für andere Interessierte. Seine Motivation: «Ich möchte eine Schweiz zeigen, die es heute nicht mehr gibt.»

Einen Link zu Markus Zurbuchens Fotoprojekt und eine ausführliche Geschichte der Publifone finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html

Das stille Verschwinden des Publifons

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