Vom heiligen Krieg bis zum modernen Militär
02.02.2024 Reichenbach, KientalAm letzten Dienstag hatte die Ökumenische Erwachsenenbildung Frutigland einen interessanten Referenten zu Gast: Dieter Baumann ist studierter Theologe, aber auch Oberst im Generalstab der Schweizer Armee. Der Experte für Militärethik sprach über die Rechtfertigung des Kriegs und über die rechtsstaatlichen Grundsätze der Schweizer Armee.
MARK POLLMEIER
Gründe, einen Krieg zu rechtfertigen, hat die Menschheit noch immer gefunden. Aber, so zeigte es Dieter Baumann im ersten Teil seines Vortrags auf: diese Gründe haben sich mit der Zeit gewandelt. In den antiken Grossreichen des Orients, bei den Assyrern, Babyloniern oder Ägyptern, hatten die Herrscher stets etwas Göttliches. Sie galten entweder selbst als Götter oder zumindest als deren Abgesandte und Stellvertreter auf Erden. Kriege waren insofern immer heilige Kriege: Man führte sie, um den Willen einer Gottheit (oder verschiedener Götter) durchzusetzen. Die Machtpolitik wurde religiös begründet.
Gott in kriegerischen Auseinandersetzungen als Verbündeten zu betrachten – dieser Gedanke findet sich auch vielfach im Alten Testament. In den Auseinandersetzungen des Volkes Israel mit den Nachbarvölkern spielt die Macht Jahwes häufig eine Rolle und entscheidet oft über Sieg oder Niederlage.
Der Gewaltverzicht und das Dilemma der Christen
Der jüdische Wanderprediger Jesus konfrontierte seine Umwelt mit einer völlig neuen, ungewöhnlichen Botschaft. Er predigte Gewaltverzicht: Liebt eure Feinde, tut jenen Gutes, die euch hassen, und wenn dir jemand eine Ohrfeige gibt, dann halte ihm die andere Wange auch noch hin (nach Lukas 6, 27–29). Dieser Aufruf stand in direktem Kontrast zur römischen Besatzungsmacht. Doch die Anhänger Jesu und die frühen Christen gerieten dadurch nicht in Gewissenskonflikte: Sie erwarteten jederzeit die Rückkehr ihres Messias. Die Truppen Roms konnten ihnen also egal sein.
Erst im weiteren Verlauf der Geschichte – spätestens, als das Christentum Anfang des 4. Jahrhunderts Staatsreligion wurde – mussten sich christliche Gelehrte mit der Frage auseinandersetzen: Kann ein Christ Soldat sein, und wenn ja: wie? Viele antworteten darauf, indem sie verschiedene Rollen definierten. Für das Individuum galt weiter der von Jesus gepredigte Gewaltverzicht. Um die Gesellschaft (den Nächsten) und den Staat zu schützen, sollte es jedoch auch Christen erlaubt sein, Gewalt anzuwenden.
In dieser Argumentation zeichnet sich in der Bewertung des Kriegs ein erster Wandel ab: Kriegerische Gewalt wird nicht mehr als gut oder gar heilig betrachtet. Stattdessen gilt sie nun gewissermassen als notwendiges Übel, das dazu dient, Schlimmeres abzuwenden oder den Frieden wiederherzustellen. Beispielhaft zitierte Baumann den Bischof und Kirchenlehrer Ambrosius aus dem 4. Jahrhundert: «Der Krieg wird geführt, damit der Friede errungen wird; sei deshalb auch, wenn du Krieg führst, ein Friedensstifter.» Der Krieg braucht nun also einen gerechten Grund, er muss der guten Sache dienen, sonst ist er abzulehnen.
Was ist ein «gerechter» Krieg?
Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Lehre vom gerechten Krieg weiterentwickelt. Thomas von Aquin, einer der bedeutendsten Gelehrten des Mittelalters, formulierte Bedingungen, unter denen ein Krieg gerecht bzw. gerechtfertigt ist. Dazu gehören unter anderem eine legitime Obrigkeit, eine «rechte Absicht», der Krieg muss das letzte Mittel einer Auseinandersetzung sein, er muss die Verhältnismässigkeit wahren und Aussicht auf Erfolg haben.
So modern sich all das liest, so hat das Ganze doch einen Haken: Alle diese Kriterien hängen stark von der jeweiligen Zeit und dem dann herrschenden Weltbild ab. Was zum Beispiel ist ein legitimer Herrscher? Was sind gerechte Gründe? Was bedeutet Gerechtigkeit?
Wie zeitgebunden die Antworten auf solche Fragen sind, zeigt sich etwa an den christlichen Kreuzzügen, die als überaus gerecht galten, weil sie für die «richtige» Religion stritten. Auch im verheerenden Dreissigjährigen Krieg, der bis Mitte des 17. Jahrhunderts dauerte, vermischten sich religiöse und machtpolitische Ansprüche – und doch hatte jeder beteiligte Herrscher das Gefühl, einen gerechten, notwendigen Krieg gegen die Verbrecher und Ketzer der anderen Seite zu führen.
Das Recht löst die Religion ab
Wohl auch, weil er mit enormen Verlusten einherging – die Landbevölkerung ging um rund 40 Prozent, die städtische Bevölkerung um 25 Prozent zurück –, bildete der Dreissigjährige Krieg eine Zäsur. «Der Krieg wurde gewissermassen ent-theologisiert», wie Dieter Baumann es formulierte. Sich auf die «richtige» Religion oder Konfession zu berufen, galt fortan nicht mehr als gerechter Grund, andere Staaten oder Fürstentümer anzugreifen. Stattdessen wurde der Krieg nun staatspolitisch begründet. Es entstand ein frühes Kriegsvölkerrecht, das ohne religiöse Begründung auskam. Gleichzeitig versuchten die neu entstehenden souveränen Staaten, den Frieden mit gegenseitigen Verträgen abzusichern. An die Stelle der Religion trat nun das Recht: Juristische Massstäbe definierten fortan die Regeln der Kriegsführung.
Damit war der Krieg zumindest in Westeuropa Teil der Staatsräson geworden. Oder wie es der preussische Feldherr Carl von Clausewitz später formulierte: «Der Krieg ist eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.»
Vom Kriegs- zum Friedensrecht
Im 20. Jahrhundert wandelte sich der Blick auf den Krieg erneut. Der Völkerbund, 1920 als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden, postulierte eine Art Kriegsverbot und sah seine eigentliche Aufgabe darin, den Frieden zu wahren. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs begann die Ära der Vereinten Nationen – das Kriegsvölkerrecht wurde zum «Friedensvölkerrecht». Mit der UN-Charta von 1945 wurde der Krieg faktisch verboten, erlaubt ist militärische Gewalt nur noch zur Selbstverteidigung. Ob ein rechtmässiger Grund vorliegt, militärische Gewalt anzuwenden, entscheidet der UN-Sicherheitsrat.
Dass mit der Einrichtung dieser überstaatlichen Gremien nicht der ewige Friede ausgebrochen ist, lässt sich an vielen Orten beobachten. So habe sich, wie Dieter Baumann erwähnte, auch Russland zu den internationalen Spielregeln verpflichtet – und sei trotzdem in die Ukraine einmarschiert. Statt Krieg nenne Putin den Angriff auf das Nachbarland dann eben «militärische Spezialoperation». Auch dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sich immer wieder selbst blockiere, sprach Baumann an. Bekanntermassen haben die fünf ständigen Mitglieder Frankreich, Russland, die USA, die Volksrepublik China und das Vereinigte Königreich ein erweitertes Vetorecht, sodass sich Einigkeit nur schwer erzielen lässt. «Aber sie reden dort wenigstens noch miteinander», verteidigte Baumann den Wert des Gremiums.
Staatsbürger in Uniform
Versuche, den Krieg, vor allem auch den Angriffskrieg juristisch zu bändigen, ziehen sich hin vom Dreissigjährigen Krieg bis in die Gegenwart, wie Baumann anhand einer Übersicht erläuterte. Noch 1998 wurde mit dem Römischen Statut die Grundlage für den ersten ständigen internationalen Strafgerichtshof geschaffen, der legitimiert ist, Kriegsverbrechen zu verfolgen.
Auch das Schweizer Militär ist auf vielfältige Weise an das Recht gebunden, wie der zweite Teil von Baumanns Vortrag aufzeigte. Zentral ist dabei die Bundesverfassung. Deren Grundprinzipien – etwa Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Demokratie und Gewaltenteilung – finden auch in der Armee Anwendung.
Die Aufgabe des Militärs lässt sich aus Artikel 2 der Bundesverfassung ableiten: «Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.»
Ihren verfassungsgemässen Auftrag erfüllt die Armee im Rahmen des Landes- und Völkerrechts. Dieses Recht einzuhalten und durchzusetzen, ist sowohl eine Führungsaufgabe als auch in der Verantwortung jedes einzelnen. Das bedeutet zum Beispiel, erkennbar rechtswidrige Befehle nicht auszuführen. In diesem Sinne sind Soldatinnen und Soldaten Bürger in Uniform und aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen.
Keine «christlichen Soldaten»
Der Vortrag im Kirchgemeindehaus Reichenbach hatte mehr Publikum angezogen, als die Veranstalter erwartet hatten. Er werte das als Zeichen dafür, «dass das Thema der Vortragsreihe aktuell ist und bewegt», so der Reichenbacher Pfarrer Markus Lemp. Bevor die BesucherInnen Gelegenheit hatten, Fragen zu stellen, fasste der Referent einige persönliche Standpunkte zum Thema zusammen. «Krieg heisst immer Töten, und deshalb ist jeder Krieg schlecht», so Baumanns Statement. Es könne vielleicht eine rechtmässige militärische Gewaltanwendung geben, etwa zur Selbstverteidigung – aber keinen gerechten oder gar heiligen Krieg. «Ein Christ oder ein Muslim kann Soldat sein», führte Baumann die Rolle der Religion in der Armee aus. «Aber es kann bei uns keine christlichen Soldaten geben und auch keine muslimischen.» Christen in Uniform seien ihrem Gewissen verpflichtet, es gelte das Gebot der Nächstenliebe. Doch könne es eben sein, dass man zum Schutz des Nächsten auch Gewalt anwenden müsse.
ZUR PERSON
Dieter Baumann studierte evangelische Theologie an der Universität Bern. Im Rahmen seiner Promotion entstand die Doktorarbeit «Militärethik. Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven». Nach seinem Theologiestudium liess er sich zum Pfarrer der bernischen Landeskirche ausbilden und wurde 2001 ordiniert.
Dieter Baumann ist Oberst im Generalstab der Schweizer Armee. Seit dem Jahr 2020 erarbeitet er im Auftrag des VBS ein zeitgemässes Berufsbild für Berufsmilitärs (Projekt Berufsmilitär 4.0), das den veränderten Bedingungen in Armee und Gesellschaft Rechnung tragen soll.
Vor seiner Ernennung zum Projektleiter war Baumann acht Monate lang stellvertretender Verteidigungsattaché ad interim in Washington (D.C.), USA.
Im Jahr 2013 kommandierte er das Swisscoy Kontingent 28 (Friedensförderungsdienst im Kosovo).
POL
«Ernstfall Frieden»
... heisst die Vortragsreihe der Ökumenischen Erwachenenbildung Frutigland in diesem Jahr. In der vergangenen Woche war Prof. Dr. Frank Mathwig in Aeschi zu Gast. Der Beauftragte für Theologie und Ethik der Evangelischen Kirche Schweiz widmete sich vor allem dem Krieg in der Ukraine, der die gängigen Vorstellungen von Krieg und Frieden herausgefordert hat – in vielen Staaten, aber auch in den christlichen Kirchen.
Der letzte Vortrag der Reihe findet am Dienstag, 6. Februar, um 19.30 Uhr im Kirchgemeindehaus Frutigen statt. Die Referentin dieses Abends ist die Ethnologin und Geografin Una Hombrecher, Themenbeauftragte Zivilgesellschaft bei HEKS / Brot für alle. Das Referatthema dieses Abends wird sein: «Ein Leben in Würde für alle als Grundvoraussetzung für Frieden».
POL
Die Vortragsreihe wird organisiert von den ref. Kirchgemeinden Adelboden, Aeschi-Krattigen, Frutigen, Kandergrund-Kandersteg, Reichenbach und Spiez sowie der Römisch-katholischen Pfarrei Frutigen.