Seil statt Schiene
16.06.2023 GesellschaftGESCHICHTE Schon vor mehr als einem Jahrhundert war eine Zahnradbahn zum Oeschinensee geplant. Doch es kam anders: Vor 75 Jahren beförderten Doppelsessel die ersten Gäste nach oben, und ganz Kandersteg feierte die neue Anlage. Als die Bahn Jahrzehnte später modernen 8er-Gondeln weichen sollte, war die Begeisterung weniger gross.
HANS HEIMANN
Die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) berichtete 1913, dass der Bundesrat der Bundesversammlung auf Antrag des Eisenbahndepartements die Konzessionierung einer elektrischen Zahnradbahn von Kandersteg hinauf zum Oeschinensee empfehle. Als Gründe nannte man etwa, dass Kandersteg seit Eröffnung der Lötschbergbahn eine Zunahme des Fremdenverkehrs verzeichne, die so von niemandem erwartet worden war, und es sei vorauszusehen, dass dieser Kurort auch im Wintersport einen bedeutenden Aufschwung nehmen werde. Somit sei das Bahnprojekt für die Einführung des Wintersports entscheidend – zudem würde damit die reiche Eisgewinnung vom See erleichtert werden.
Die Talstation der 3,3 Kilometer langen Bahn war damals oberhalb der Staatsstrasse Frutigen–Kandersteg geplant, während die Bergstation im Innern des «Finsterwaldes» erstellt werden sollte. Die Fahrzeit berechnete man mit zwanzig Minuten und gekostet hätte das Projekt 1,7 Millionen Franken. Der Ständerat gab den Konzessionären ein Jahr nach der Empfehlung grünes Licht zu dem Bauvorhaben. Doch diese zogen ihr Gesuch Ende 1915 – wohl aus finanziellen Gründen – wieder zurück. Das Projekt Zahnradbahn war damit Geschichte.
Ein Dorf feiert «seine» Bahn
Im Jahr 1948 nahm dann eine Anlage mit einer anderen Transportmethode ihren Betrieb auf: eine Sesselbahn. Im Jahr davor hatte dieses Projekt die Konzession erhalten, und im Herbst 1947 fiel der Baubeschluss. Die Bauzeit war sehr kurz, schon im folgenden Frühling nahm die Bahn bereits provisorisch ihren Betrieb auf und beförderte Gäste in acht Minuten hinauf zur Bergstation.
Die offizielle Einweihung ging zu Beginn der Sommersaison vor 75 Jahren mit einem grossen Festakt über die Bühne. Unter starker Beteiligung der Bevölkerung, mit Vertretern von Behörden und Gästen aus der ganzen Schweiz feierte Kandersteg die neue Bahn. Das ganze Dorf war an diesem Samstag mit Flaggen und Blumen geschmückt. Die Dorfmusik spielte auf, Frauen und Töchter in ihren Trachten tanzten mit den Mannen zu lüpfiger Ländlermusik.
Wo gehts hier denn zur Talstation?
Erstellt wurde diese Sesselbahn von den Firmen Von Roll, Werk Bern, und der Losinger AG Bern. Wie bei der Firstbahn waren auch beim Bau des Sessellifts die Ingenieure Max Masshardt von der Baufirma Losinger und Paul Zuberbühler von Von Roll für die Ausführung des Projekts verantwortlich.
Die Fahrbahnlänge betrug 1405 Meter. Sie verlief über 15 Eisenstützen und überwand eine Höhendifferenz von 486 Metern.
Nach der Eröffnung fragten Ortsunkundige gelegentlich, wo es denn zur Sesselbahn gehe – obwohl sie quasi davor standen. Das lag daran, dass die beiden Thuner Architekten Wipf und Müller die Talstation derart harmonisch in die Umgebung eingefügt hatten, dass sie auf den ersten Blick kaum zu sehen war. Tragischerweise erlag Jakob Wipf während der Realisierung des Projekts auf der Baustelle einem Schlaganfall.
Nach Beendigung der Wintersaison 1948 konnten dann die letzten Arbeiten des 750 000 Franken teuren Baus ausgeführt und abgeschlossen werden. Dabei wurde auch ein neuer, zwei Meter breiter Höhenweg von der Bergstation der Sesselbahn leicht abfallend zum See angelegt.
Ausbau der Leistung in den 1970ern
Die ursprüngliche Förderleistung der Bahn wurde anfangs mit 250 Personen pro Stunde berechnet. Um auch in Stosszeiten die Gäste rasch befördern zu können, errichtete man die Anlage mit einer maximalen Leistung von 400 Personen pro Stunde. Dazu standen 66 Doppelsessel zur Verfügung, die in Intervallen von 18 Sekunden auf die Strecke geschickt werden konnten. 1972 wurde die Stundenkapazität mit einer neuen Antriebseinheit in der Talstation massiv auf 540 Personen gesteigert. Nun waren es 80 Sessel, die alle 13 Sekunden auf die Strecke geschickt werden konnten.
Der letzte grössere Umbau der Bahn fand 1989 / 90 statt. Antrieb, Motor, Getriebe und Hilfsmotor wurden einer Erneuerung unterzogen und es erfolgte die Automatisierung der Sesselbahn.
Widerstand gegen die Erneuerung
Kaum 20 Jahre später war die Bahn Geschichte. «Die Sesselbahn hatte ihr Alter erreicht, besonders die Fundamente der Pfeiler erlaubten keine neue Konzessionserteilung mehr», erinnert sich Jürg Mohler, der dem Bahnunternehmen bis 2021 als Verwaltungsratsmitglied wie auch als Vize-Verwaltungsratspräsident diente und später zusätzlich einen Sitz in der Geschäftsleitung innehatte. Mohler erläutert, dass der Verwaltungsrat sowie die Geschäftsleitung zunächst planten, die alte Bahn durch eine neue Sesselbahn zu ersetzen. «Dieses Vorhaben musste jedoch aus Gründen der Materialbeschaffung wieder verworfen werden.»
Doch der Plan, die alte Sesselbahn durch einen modernen Bahntypus zu erneuern, stiess auf Widerstand, so Mohler. «Wir wollten eine Gondelbahn bauen, doch das rief den Heimat- und den Denkmalschutz auf den Plan. Beide erhoben Einspruch. Wir kämpften hingegen weiter, gingen bis vor das Verwaltungsgericht.» Dieses wies sämtliche Einsprachen ab. Das Gericht entschied, dass die touristische Erschliessung des Gebietes durch eine neue Gondelbahn höher zu gewichten sei als das allgemeine Interesse am Erhalt der alten Sesselbahn.
Abbruch nach 60 Jahren
Anfänglich trauerte man der historischen Sesselbahn in Kandersteg hinterher. Manche behaupteten gar, dass der Ort mit dem Verschwinden der Nostalgie-Sesselbahn um eine grosse Attraktion ärmer sei. Zweifel wurden laut. Eine moderne Gondelbahn sei nur eine von vielen in den Alpen und werde kaum neue Gäste anlocken. Die Kritiker sollten nicht recht behalten.
Im September 2008 begann der Abbruch der historischen Sesselbahn, und bereits im Dezember des gleichen Jahres beförderte die neue Gondelbahn Gäste in modernen Achterkabinen hinauf zum Oeschinensee.
Auf der Internetseite seilbahnbilder.ch finden sich weitere Fotos der früheren Sesselbahn. Wir haben die Adresse in unserer Web-Link-Übersicht abgelegt.
Der übereifrige Hund
Marianne Holzer arbeitete während beinahe dreissig Jahren an der Kasse der Sesselbahn und meint rückblickend: «Ich habe viele schöne Erinnerungen an diese Bahn. Natürlich gab es schon damals eilige Gäste, aber die meisten hatten Zeit.»
Die Kanderstegerin trauerte damals der alten Bahn nicht nach, erleichterte doch die neue Gondelbahn besonders den Transport von Kindern oder Familien mit Kinderwagen. Auch für die Beförderung von Tieren sei es nach der Erneuerung einfacher gewesen, erklärt sie. So erinnert sie sich an einen Zwischenfall mit einem Hund und der alten Sesselbahn: «Dieser Hund war es bereits gewohnt, dass wir für ihn jeweils ein Brett als Unterlage auf den Sitz legten. Doch an einem Tag sei derselbe Hund schon vor seinem Herrchen schnell auf einen Sessel gesprungen, als dieser bereits Fahrt aufgenommen und das Stationsgebäude verlassen hatte. «Blitzartig stoppten wir die Bahn und es war eine ziemliche Übung, den Hund aus seiner misslichen Lage zu befreien», erinnert sich Holzer.
Der Hund wurde zur Kontrolle zum Tierarzt gebrach. Er habe das Ereignis aber ohne grosse Blessuren überstanden und sei danach noch viele Male als Fahrgast sicher transportiert worden.
HANS HEIMANN