Maggi, Cola, Birchermüesli
19.01.2024 GesellschaftGESCHICHTE Kulinarik ist das Thema der diesjährigen Belle-Epoque-Woche. Wer dabei an Urgrossmutters Kochrezepte denkt, liegt sicher nicht falsch. Doch die Jahre bis 1914 haben noch eine andere Dimension: Sie markieren den Beginn der industriellen Lebensmittelherstellung. Ein historischer Streifzug zeigt, was damals alles erfunden wurde und bis heute unseren Alltag prägt.
MARK POLLMEIER
1871 ging der deutsch-französische Krieg zu Ende. Der nächste militärische Konflikt, der Erste Weltkrieg, brach erst 1914 aus. In den 40 Jahren dazwischen herrschte – ungewöhnlich für Europa – Frieden. Wissenschaft und Technik machten enorme Fortschritte, und zumindest in den Metropolen des Kontinents herrschte ein reges Kulturleben. Die führenden Staaten Europas mehrten ihren Wohlstand – auch durch Ausbeutung ihrer Kolonien in Afrika und Asien.
Vier Jahrzehnte ohne Krieg, wachsender Wohlstand, neue Transportmöglichkeiten: All das hatte auch Auswirkungen auf das Angebot an Lebensmitteln. Die sogenannten Kolonialwaren, etwa Kaffee und Kakao, fremde Gewürze und Tee, waren in Europa zwar schon vorher bekannt gewesen. Nun aber wurden solche Übersee-Produkte in grossem Stil importiert. Die Folge: Nicht nur die reiche Oberschicht, auch immer mehr sogenannte «kleine Leute» konnten sich solche Güter leisten. Die Zahl der Kolonialwarenläden wuchs rasch, ebenso das Gefühl, dass Lebensmittel aus den entlegensten Ecken der Welt jederzeit verfügbar zu sein hatten. Das, was wir heute Konsumgesellschaft nennen, hat seinen Ursprung in jenen goldenen Jahren um 1900.
Neue Techniken, neue Produkte
Wie die Technik allgemein, machte auch die Lebensmittelindustrie grosse Fortschritte. Die Erfindung von «Kältemaschinen» erlaubte die zuverlässige Kühlung verderblicher Waren; schon 1875 wurde der erste durchgehend gekühlte Transport von New York nach London durchgeführt. Neue Verarbeitungsmethoden führten zur Entwicklung bisher unbekannter Produkte. Das ausgehende 19. Jahrhundert war damit auch die Geburtsstunde der Fertiggerichte, die sich schnell und unkompliziert zubereiten liessen.
• In den 1880er-Jahren erfand der Schweizer Julius Maggi seine gleichnamige Würze, die einen preiswerten Ersatz für Fleischextrakt oder Bouillon darstellte. Auch die eckige Maggi-Flasche im bekannten gelb-roten Design stammt aus jener Zeit – sie steht bis heute nahezu unverändert in vielen Küchen.
• Fast zeitgleich rührte der US-amerikanische Apotheker John Stith Pemberton einen braunen Sirup zusammen. Der sollte eigentlich gegen Kopfschmerzen helfen, wurde aber stattdessen zum erfolgreichsten Erfrischungsgetränk der Welt: Coca-Cola.
• Wer hätte gedacht, dass Cornflakes einst als «Kraftnahrung» in Sanatorien dienten? John Harvey Kellogg servierte sie 1897 erstmals seinen Patienten. Die zuckerreichen, haltbaren Maisflocken hatte er zuvor mit seinem Bruder Will Keith Kellogg erfunden.
Rohkost im Sanatorium
Apropos Cornflakes: In der Schweiz ging Maximilian Oskar Bircher-Benner, ebenfalls Arzt, einen anderen Weg. In seinem Sanatorium «Lebendige Kraft» am Zürichberg servierte er prominenten Patienten wie Hermann Hesse oder Thomas Mann eine «Apfeldiätspeise», die wir heute als Birchermüesli kennen. «D’Spys», wie Bircher sein Abendessen nannte, enthielt einen Esslöffel Haferflocken, die er über Nacht in drei Esslöffeln Wasser einweichte. Am nächsten Tag gab er einen Esslöffel gezuckerte Kondensmilch, den Saft einer halben Zitrone, einen geriebenen Apfel (samt Schale und Kerngehäuse) sowie einen Esslöffel geriebene Nüsse dazu.
Mit seiner bekömmlichen Abendspeise war Bircher ein Exot. Rohkost war damals nicht üblich, Früchte galten als wenig nahrhaft. Gleichwohl hat sich das Birchermüesli durchgesetzt und ist heute international bekannt – allerdings nicht als Abendspeise, sondern als Bestandteil des Frühstücks.
Die Geburt der Schokoladen-Nation
In der Schweiz war die Phase der Belle Epoque vor allem von zwei Produkten geprägt: Schokolade und Kondensmilch. Im Jahr 1879 stellte ein gewisser Rodolphe Lindt erstmals Schmelzschokolade her – und lancierte damit prompt einen Welterfolg. In den 35 Jahren bis zum Ersten Weltkrieg verfünfzigfachten (!) sich die Schokoladenexporte der Schweiz, in den 1880er-Jahren hielt die Schweiz den Weltrekord in der Schokoladenproduktion. Bevor der Markt kriegsbedingt zusammenbrach, wurden über 27 000 Tonnen des begehrten Luxusguts aufgeführt – ein Niveau, das erst 1987 wieder erreicht wurde. Gemessen an den Schweizer Gesamtausfuhren hatte die Schokolade mit 15,1 Prozent fast das Niveau der Maschinenindustrie und übertraf die Bedeutung der Uhrenherstellung.
Die Produktion lag in jenen Jahren freilich nicht bei Lindt allein. Auch andere damals noch bestehende Unternehmen profitierten vom Schokoladen-Boom, etwa Suchard in Serrières, Kohler in Lausanne, Cailler in Broc und Sprüngli in Zürich, das 1899 mit Lindt zu Lindt & Sprüngli fusionierte.
Zuckermilch und Kindermehl
Bedeutend war hierzulande auch die Technik der Milchkondensation. Die beiden US-Amerikaner Charles und George Page gründeten 1866 in Cham die Anglo-Swiss Condensed Milk Company. Ab 1867 stellten die beiden Brüder dort gezuckerte Kondensmilch her und hatten damit in der Schweiz und im Ausland grossen Erfolg. Wie schon beim Chocolatier Lindt gab es alsbald Nachahmer, die ins Geschäft einsteigen wollten. Diese Unternehmen waren jedoch meist kurzlebig und wurden teilweise von der Anglo-Swiss übernommen.
Ein Jahr nach den Brüdern Page brachte der deutschstämmige Apotheker Heinrich Nestle in der Schweiz Milchpulver für Kinder auf den Markt: «Henri Nestle’s Kindermehl». Das neuartige Produkt war so erfolgreich, dass Nestles Firma erweitert und auf Massenproduktion umgerüstet werden musste.
Die Internationalisierung beginnt
1874 begann Nestle, der sich mittlerweile Henri Nestlé nannte, sich aus seiner Firma zurückzuziehen. 1875 verkaufte er das Unternehmen, das zu diesem Zeitpunkt einen Jahresnettogewinn von 400 000 Franken auswies, an Geschäftsfreunde. Auch diese waren höchst erfolgreich. 1878 stiegen sie in den Markt für gezuckerte Kondensmilch ein, und nach einigen Jahren starker Konkurrenz fusionierten Nestlé und die Anglo-Swiss. Spätestens jetzt wuchs Nestlé zu einem Schweizer Firmenimperium mit Hunderten Mitarbeitern heran. Doch die Globalisierung hatte längst begonnen: Die Nestlé-Eigner merkten, dass es günstiger war, die Produktion in die Bestimmungsmärkte zu verlegen, statt weiter aus der Schweiz zu exportieren. In jenen Jahren begann ein Internationalisierungsprozess, der immer noch anhält. Heute stellt Nestlé rund 2000 Markenprodukte her und hat weltweit 275 000 Mitarbeitende.
Der Aufstieg der Konserve
Neben Milchprodukten profitierten auch andere Lebensmittelsparten vom Wohlstand und den neuen Möglichkeiten jener Jahre. Die Sterilisierung von Früchten und Gemüse im privaten Haushalt ging stark zurück, stattdessen erlebte die Konservenindustrie einen Aufschwung. Nicht nur Maggi wuchs, auch die Konservenfabrik Henckell, Zeiler & Cie. (ab 1889 Henckell & Roth, kurz: Hero) wurde ständig erweitert und begann, ins Ausland zu exportieren.
Die Folgen der Industrialisierung
Auch die Bierherstellung hatte ihre Belle Epoque. Zwischen 1883 und 1911 verdreifachte sich die Schweizer Produktion auf über drei Millionen Hektoliter pro Jahr. Parallel dazu schwand allerdings die Brauereivielfalt. Während es 1883 noch 483 Betriebe gab, sank ihre Zahl bis 1900 auf 245 und bis 1911 auf 138. Schuld an diesem Konzentrationsprozess war unter anderem die Entwicklung neuer Maschinen und Produktionsverfahren, die sich die «Grossen» leisten konnten, die Kleinbetriebe jedoch nicht.
Der technische Fortschritt beeinflusste auch die übrigen Branchen. Als 1870 die Zigarette in Mode kam, führte dies in der Tabakindustrie zu grossen Umwälzungen. Dank der Entwicklung von Knetmaschinen und geräumigen Backöfen entstanden nun grosse Bäckereibetriebe. Beliefert wurden sie von immer effizienter arbeitenden Mühlen: Die ab 1876 verbreiteten Walzmühlen setzten einen Prozess in Gang, der die kleinen Familienbetriebe nach und nach verschwinden liess. Genauso erging es den öffentlichen Schlachthöfen, die zumindest aus den Städten allmählich verschwanden. Stattdessen entstanden am Stadtrand Industrieanlagen, in denen nicht nur geschlachtet, sondern das Fleisch gleich auch verarbeitet und in Konserven gefüllt wurde.
Auswirkungen bis heute
Vieles, was zur Zeit der Belle Epoque erfunden und «zusammengebraut» wurde, war zunächst wohl nur betuchteren KonsumentInnen zugänglich. Doch mit zunehmender Industrialisierung setzten sich viele der Produkte und Ernährungstrends durch und wurden für die breite Masse erschwinglich. Gerade die Lebensund Genussmittel aus Schweizer Produktion erwiesen sich dabei als erstaunlich langlebig – die «Erfinder-Betriebe» sind nicht selten zu Weltkonzernen geworden.
Die Belle-Epqoue-Woche wird am kommenden Sonntag eröffnet. Fester Bestandteil der diesjährigen Ausgabe ist die Kulinarik-Ausstellung im Gemeindesaal.