Susanne Brütsch stammt aus Aeschiried. Ab Herbst 2023 lebte und arbeitete die Rechtsanwältin ein Jahr lang in einer Grosskanzlei in New York – die Zeit sei ein echtes Abenteuer gewesen, sagt sie rückblickend.

MARK POLLMEIER
Eine Herausforderung waren schon die Einreiseformalitäten für die USA, die sich zunächst schwierig gestalteten. Aber auch die Wohnungssuche in der 9-Millionen-Einwohner-Stadt verlief eher ungewöhnlich, und an manche Gepflogenheiten in der Arbeitswelt musste sich Susanne Brütsch erst einmal gewöhnen.

Frau Brütsch, ein Nationalrat aus dem Frutigland schrieb mir kürzlich: «Wenn du zwei Anwälte nach einer Meinung fragst, hast du in der Regel drei Ansichten.» Ein Klischee?

Susanne Brütsch (lacht): Nein, da ist schon was dran, das lässt sich nicht abstreiten. Aber das macht den Beruf ja auch interessant: dass es verschiedene Meinungen gibt, über die man diskutieren kann.

Wie kamen Sie selbst auf die Idee, Juristin zu werden?

Ich habe in Interlaken das Gymnasium besucht und wusste danach eigentlich nicht so genau, was ich machen sollte. Irgendwann waren Medizin und Jus in der engeren Auswahl. Für Jus habe ich mich dann entschieden, weil es mir familientauglicher erschien.

Heute arbeiten Sie als Anwältin bei Lenz & Staehelin. Die Kanzlei hat ihren Hauptsitz in Zürich – seit November ist ihr Büro aber in Genf, wo Lenz & Staehelin ebenfalls vertreten sind. Sind solche Ortswechsel üblich?

Ja, durchaus. Innerhalb der Kanzlei wird der Austausch zwischen den Standorten gefördert, unter anderem auch wegen der Sprache. Seit November und noch bis Ende Februar bin ich also in Genf, danach geht es zurück nach Zürich.

Das Stichwort Austausch ist eine gute Überleitung: Ab Herbst 2023 haben Sie für ein Jahr in New York gearbeitet, gewissermassen als Gastanwältin. Wie kam es dazu?

Ein solcher Aufenthalt im Ausland wird gern gesehen. Er bietet die Möglichkeit, sich weiterzubilden, internationale Kontakte zu knüpfen, das eigene Netzwerk zu erweitern. Viele studieren auch noch einmal, um danach einen international anerkannten Abschluss zu haben. Nach zwei oder drei Jahren wurde ich also gefragt, ob ich mir so etwas vorstellen könne.

War für Sie von Anfang an klar, dass es nach New York geht?

Es hätte auch irgendein anderer Ort sein können. Aber ich fand die Stadt sehr attraktiv und ich war vorher noch nie dort gewesen.

Wie findet man einen passenden Arbeitgeber? Indem man sich einfach bewirbt?

Ja, im Prinzip läuft es so. Ich habe bei Lenz & Staehelin mein Interesse für ein Auslandjahr bekundet und meinen Lebenslauf zusammengestellt. Die Anfrage selbst lief dann über meinen Chef. Unsere Kanzlei hat Erfahrung mit solchen Austauschprogrammen und Kontakte im Ausland. Das erleichtert manches.

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Susanne Brütsch entschied sich dagegen, während ihrer Zeit in den USA ein Aufbaustudium zu machen. «Ich wollte dort lieber arbeiten», sagt sie. In New York fing Susanne Brütsch bei Paul, Weiss, Rifkind, Wharton & Garrison an. Neben dem Hauptsitz in New York unterhält die Kanzlei weitere Büros in den USA und Kanada, in Europa und Asien. Insgesamt beschäftigen «Paul, Weiss», wie die Kanzlei in Kurzform genannt wird, über 1200 Anwältinnen und Anwälte. Der Jahresumsatz liegt bei rund zwei Milliarden Dollar.

Nachdem Sie Ihren Arbeitgeber in New York kannten, galt es, den Umzug zu organisieren.

Ja, und das war gar nicht so einfach! Vor allem die Einreiseformalitäten haben mich eine Weile beschäftigt. Die US-Behörden wollten zum Beispiel eine Aufstellung aller Fälle, die ich als Gerichtsschreiberin und Anwältin bisher bearbeitet hatte – das konnten wir dann mit Hinweis auf das Amts- und Anwaltsgeheimnis abwenden. Zum Glück hat mich mein neuer Arbeitgeber unterstützt, das nötige Visum zu bekommen.

Hatten Sie denn in New York schon eine Wohnung, als sie schliesslich hinflogen?

Nein. Die Wohnungssuche war auch etwas skurril. Man sagte mir, dass man sich eine Unterkunft eher kurzfristig sucht. Ich bin also wenige Tage vor dem Arbeitsstart nach New York gereist und habe mich dann vor Ort umgeschaut. Und tatsächlich hat es nicht lange gedauert, bis ich etwas fand. Ich habe mir die Wohnung angeschaut, gesagt: «Die nehme ich», und zwei Tage später konnte ich bereits einziehen.

Ihre neue Bleibe war vermutlich nicht billig.

Vor allem war sie nicht sehr gross: ein Raum, den man mit einer Schiebetür noch etwas unterteilen konnte, sozusagen eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung, dafür mitten in der Stadt gelegen. Trotzdem hat sie pro Monat 4000 Dollar gekostet. New York ist insgesamt sehr teuer.

Oha! War die Wohnung denn wenigstens möbliert?

Nein, bis auf die Küche war nichts vorhanden. Aber auch das ging dann recht schnell. Ich habe mir das Nötigste bestellt, und vieles wurde noch am selben Tag geliefert. Leider gab es in dem Haus keinen Lift, sodass ich das meiste in den fünften Stock schleppen musste.

Kommen wir zu Ihrem Arbeitsplatz in New York. Wie ist es in so einer amerikanischen Grosskanzlei?

Das Arbeitsklima ist angenehm, alle sind sehr zuvorkommend. Als der Managing Partner (geschäftsführender Gesellschafter) der Kanzlei uns Anwälte am Anfang zusammen mit den anderen Neueintritten mit einer Rede willkommen hiess, dachte ich: «Hier gehst du nie mehr weg!» Aber im Arbeitsalltag ist dann natürlich doch nicht alles nur toll. Zum Beispiel ist die Arbeitsbelastung gerade für die jüngeren AnwältInnen recht hoch, und alles ist sehr hierarchisch organisiert.

Wie äussert sich das?

Dass man eine E-Mail direkt an seinen Chef schreibt, ist zum Beispiel komplett unüblich. Das macht man grundsätzlich nicht. An solche Dinge musste ich mich erst mal gewöhnen. Aber wie gesagt: Die KollegInnen waren allesamt sehr nett und hilfsbereit.

Das anglo-amerikanische Rechtssystem funktioniert in Teilen ganz anders als unseres. Haben Sie denn in New York selbst an Fällen gearbeitet – oder ging es mehr darum, «zuzuschauen» und zu lernen?

Nach einer Einführung habe ich auch an Fällen mitgearbeitet und jüngere Anwälte beaufsichtigt. Ein Fall bestand darin, eine interne Untersuchung in der Sportabteilung bzw. im «Athletics Department» einer Privatuniversität in Illinois zu führen.

Das tönt ungewöhnlich. Worum ging es da?

Es gab dort den Verdacht von Fehlverhalten von Coaches gegenüber Studierenden. Die Uni-Leitung beauftragte uns, die Kultur und das Meldeverhalten in der Sportabteilung des Colleges zu untersuchen. Wir sind also ein paar Male nach Chicago gereist und haben Interviews mit über 120 Personen geführt.

Warum beauftragt man eine Anwaltskanzlei damit? So etwas könnte man doch von eigenen Leuten prüfen lassen?

Das hat mehrere Gründe. Zum einen musste die Untersuchung unabhängig sein, sonst ist das Resultat wenig glaubhaft. Der zweite Punkt ist: Der Auftraggeber erwartet auch Schlussfolgerungen und Empfehlungen, was zu tun ist und wie er sich absichern kann. Und das betrifft dann eben schon die juristische Ebene.

Und solche Empfehlungen haben Sie auch ausgesprochen?

Ja, es gab einen 50-seitigen öffentlichen Abschlussbericht, in dem wir unsere Erkenntnisse dargelegt haben, und am Ende auch Empfehlungen, welche Schritte die Uni nun einleiten sollte. Ich fand diesen Fall wegen der verschiedenen Arbeitsformen sehr spannend.

Können Sie ein Beispiel für einen Fall nennen, der vor Gericht landete?

Auch das gab es. Wir haben für unsere Kanzlei beispielsweise eine Trainerin für Rennpferde vertreten. Bei einem Pferd, das sie trainierte, hatte man verbotene Substanzen gefunden …

Es ging also um Doping?

Sozusagen. Der Frau drohte ein mehrjähriges Berufsverbot, was ihre Existenz gefährdet hätte. Unsere Aufgabe war, das Bestmögliche für sie herauszuholen.

Und das gelang?

Das Verfahren endete mit einem Vergleich, der zumindest besser war als ein Berufsverbot. In diesem Fall wurde mir der Unterschied zwischen unserem und dem amerikanischen Rechtssystem sehr deutlich. Bei uns geht es relativ streng nach Gesetz und man muss vor allem in Zivilprozessen jede Behauptung akribisch belegen. Dort richtet sich alles nach Präzedenzfällen, also nach ähnlichen Fällen, über die schon einmal entschieden wurde. In den Schriften zum Prozess wird oft einfach mal drauflos «geschossen» und etwas in den Raum gestellt. Es ist ein völlig anderes Arbeiten.

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Susanne Brütsch war als Austauschanwältin nicht allein in New York zu Gast. Mit ihr zusammen waren noch zehn andere Visiting Lawyers bei «Paul, Weiss», manche von ihnen mit Partnern. Susanne Brütsch hat zu allen noch immer Kontakt, am meisten zu einer Anwaltskollegin aus Mailand. Die Mitglieder dieser international zusammengewürfelten Gruppe waren denn auch erste Ansprechpartner für Freizeitaktivitäten in New York.

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Konnten Sie denn die Stadt überhaupt geniessen – oder war die Arbeitsbelastung so gross, dass Sie gar nicht rauskamen?

Ganz so schlimm war es zum Glück nicht. Ich musste zwar ab und zu auch am Wochenende arbeiten, aber es blieb genügend Freizeit für Unternehmungen und Reisen inner- und ausserhalb des Landes.

Wie haben Sie New York erlebt?

Surreal. Ich habe oft einfach irgendwo gestanden und gedacht: Wow! Wahnsinn, dass ich hier leben darf. Diese Stadt hat ein unglaubliches Tempo und kommt eigentlich nie zur Ruhe. Es gibt jeden Tag und rund um die Uhr x Möglichkeiten, was man als Nächstes machen könnte. Und in unserer Gruppe gab es eigentlich immer jemanden, der bereit war, etwas zu unternehmen. Ausserdem haben mich viele Leute in New York besucht – meine Mutter war sogar zwei Mal da.

Das tönt fast ein bisschen nach Stress …

Nein, nein. Ich habe es sehr genossen. Mittlerweile habe ich mich wieder an den hiesigen Rhythmus gewöhnt und bin ganz froh, dass ich es etwas ruhiger angehen kann. Die Stadt, dieses «New-York-Gefühl» vermisse ich aber schon ein bisschen.

Hat das Jahr im Ausland denn Ihre Erwartungen erfüllt?

Absolut, ich habe sehr viel gelernt, nicht nur die Sprache; Englisch konnte ich vorher schon ganz gut. Vor allem der Austausch mit den KollegInnen war bereichernd und die Gepflogenheiten in einem anderen Land kennenzulernen – das alles hat mir viel gebracht. Ich denke, dass ich mich während dieses Jahres auch persönlich stark weiterentwickelt habe.

ZUR PERSON

Susanne Brütsch, Jahrgang 1990, wuchs mit zwei Brüdern in Aeschiried auf. Ihre Mutter ist Aeschinerin, ihr Vater stammt aus Grindelwald. Bis heute !ndet Susanne Brütsch es «wunderschön», in Aeschiried zu sein. «Es ist wie Ferienmachen», sagt sie. Wenn sie länger nicht in Aeschiried war, vermisst sie die Berge mit am meisten.
Brütsch studierte Rechtswissenschaften in Bern. Den praktischen Teil ihrer Ausbildung absolvierte sie auf dem Regierungsstatthalteramt Frutigen-Niedersimmental, in einer Wirtschaftskanzlei in Bern und am Regionalgericht Oberland in Thun. 2018 machte Brütsch ihre Anwaltsprüfung, anschliessend arbeitete sie zunächst beim Regionalgericht Oberland in Thun und anschliessend als stv. leitende Gerichtsschreiberin beim Obergericht und beim Handelsgericht in Bern. Heute ist Susanne Brütsch Rechtsanwältin bei Lenz & Staehelin, einer der grössten und ältesten Anwaltskanzleien in der Schweiz. Aktuell arbeitet sie in Genf, wo Lenz & Staehelin neben Zürich und Lausanne einen Standort haben.
Bei ihrer Arbeit ist Brütsch vor allem mit Zivilprozessen beschäftigt, mit Forderungsstreitigkeiten und internen Untersuchen im Wirtschaftsbereich. Zum Ausgleich trifft sie Freunde, treibt Sport, bewegt sich viel in der Natur, geht gern essen und auf Reisen.

POL

Ich dachte: «Hier gehst du nie mehr weg!»

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