Der Designklassiker mit dem Sekundenschlaf feiert Geburtstag
13.02.2024 GesellschaftTECHNIK Bei Schweizer Uhren denken viele an Edelmarken wie Patek Philippe, Rolex oder Breitling. Weit bekannter dürfte allerdings eine Uhr sein, die seit acht Jahrzehnten nahezu unverändert gebaut wird.
MARK POLLMEIER
In Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» von 1924 sinniert der junge Ingenieur Hans Castorp über die Zeit. Er blickt auf seine Taschenuhr und schaut dem Sekundenzeiger beim Wandern zu. Geradezu unerbittlich verrichtet dieser seine Arbeit, «fühllos gegen Ziele, Abschnitte, Markierungen». Der Sekundenzeiger hätte zur vollen Minute einen Augenblick anhalten «oder wenigstens sonst ein winziges Zeichen geben sollen, dass hier etwas vollendet sei», wünscht sich Castorp. Doch nichts da: Die Zeit verrinnt vor seinen Augen, gleichförmig, ohne Pause.
20 Jahre später verwirklichte ein Schweizer Ingenieur, was sich sein Kollege aus dem Roman gewünscht hatte. Im Jahr 1944 entwarf Hans Hilfiker jene Bahnhofsuhr, die noch heute auf fast allen Schweizer Bahnhöfen hängt – und deren Sekundenzeiger zur vollen Minute kurz «verschnauft», bevor er seinen Weg fortsetzt.
Technik und Design
Der aus Zürich stammende Hilfiker war zunächst international tätig, kehrte in den frühen 1930er-Jahren aber in die Schweiz zurück. Ab 1944 war er Chef der «Dienste ortsfeste elektrische Anlagen». Die Bahnhofsuhren fielen also schon von Berufs wegen in seinen Aufgabenbereich. Aber Hilfiker verstand sich nicht nur als Techniker, als Ingenieur, sondern auch als Designer. Beide Aspekte seines Schaffens verwirklichte er in der SBB-Bahnhofsuhr. Deren schwarzweisses Zifferblatt kommt ohne Zahlen aus und ist so schlicht gestaltet, dass man es auch auf grössere Entfernungen gut lesen kann. Das einzige «modische» Element ist der rote Sekundenzeiger, der der Kelle eines Stationsvorstands nachempfunden ist.
Schwankungen im Stromnetz
Dieser Sekundenzeiger legt ein für Uhren merkwürdiges Verhalten an den Tag: Wenn die Minute vollendet ist, bleibt er auf der 12 kurz stehen und legt eine maximal 1,5-sekündige Pause ein – ein winziges Zeichen, dass hier etwas abgeschlossen wurde. Das Verweilen bringe Ruhe in den hektischen Bahnhofsalltag, befand Hans Hilfiker. Zudem erleichtere es die pünktliche Abfertigung der Züge. Die Entscheidung, dem roten Zeiger nach jeder Minute einen Sekundenschlaf zu gönnen, hatte zunächst aber technische Gründe. Schweizer Bahnhofsuhren werden mit Wechselstrom betrieben. Zur Zeit ihrer Einführung unterlag der jedoch noch gewissen Schwankungen, was die Pünktlichkeit beeinflusst hätte. Damit der Sekundenzeiger für eine Umrundung des Zifferblatts wirklich 60 Sekunden braucht, baute man gewissermassen einen Puffer ein. Der Zeiger läuft also eine Minute lang etwas zu schnell. Auf der 12 verharrt er dann so lange, bis die Minute wirklich voll ist – erst dann springt er zusammen mit dem Minutenzeiger wieder vor und läuft weiter.
«Minutensprunguhr mit zusätzlicher schleichender Sekunde» nennt sich diese mechanische Lösung im Fachjargon. In der Praxis sorgt sie dafür, dass die Schweizer Bahnhofsuhren auch dann genau gehen, wenn im Wechselstromnetz Schwankungen auftreten. Wobei die Ausgleichspause auf der 12 heute vermutlich gar nicht mehr nötig wäre: Das 50-Hertz-Wechselstrom-Netz ist heute sehr stabil.
Weil die Schweizer Bahnhofsuhr einen grossen Wiedererkennungswert hat, gibt es sie seit 1986 auch als Armbanduhr. Das Design wurde von der Schweizer Uhrenfirma Mondaine Watch Ltd. in Absprache mit den SBB übernommen. Unter den verschiedenen Modellen ist auch eines, das den original Sekundenschlaf nachahmt.
Nachahmer auf der ganzen Welt
In den 80 Jahren seines Bestehens wurde der Designklassiker aus der Schweiz in vielen Ländern kopiert. Manches ist vielleicht etwas anders geformt, die Stundenstriche sind weniger eckig, nicht überall gibt es einen Sekundenzeiger. Wer sich jedoch den Spass macht und Bahnhofsuhren in aller Welt vergleicht, wird feststellen: Die meisten sind an das Schweizer Modell angelehnt. Selbst auf Perrons in der indonesischen Haupstadt Jakarta finden sich Zeitanzeiger, die der schwarz-weissen SBB-Uhr verblüffend ähneln. In manchen Ländern wurde sogar die kleine Pause zur vollen Minute mitübernommen.