Nachwuchs- und Fachkräftemangel, Energieknappheit, geldpolitische Unsicherheiten – das waren die Themen des Wirtschaftstreffens, zu dem die Volkswirtschaft Berner Oberland eingeladen hatte.

Als Vorstandsmitglied der Volkswirtschaft Berner Oberland und als offizieller Bundesratskandidat ist Albert Rösti aktuell ein gefragter Mann. Die rund 150 anwesenden VertreterInnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft lauschten gespannt, als Rösti alle Anwesenden willkommen hiess und ihnen dafür dankte, dass sie trotz des herrlichen Herbstwetters den Weg nach Thun gefunden hatten. Nach einer schwungvollen Eröffnungsrede übergab er das Wort an Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Aussichten für 2023: «Keine Panik»
Inflation, Energieknappheit, Fachkräftemangel: Die aktuellen Herausforderungen für die Wirtschaft sind laut Binswanger nicht neu – und auch bei Weitem nicht so dramatisch, wie in den Medien oft suggeriert werde. Hinsichtlich der Inflation sei die Schweiz weit entfernt von einem Horrorszenario, die Prognose des Seco für 2023 liege bei 2,3 Prozent. Wie gut es der Schweiz damit gehe, zeige nur schon ein Blick in unsere Nachbarländer: Für Europäer wäre die Schweizer Inflation ein Segen, denn in der Eurozone kletterte diese gegenüber dem Vorjahresmonat um satte 10 Prozent.

Die Gründe für die geringere Inflation in der Schweiz macht Binswanger an vier Punkten fest:

• Schweizer Haushalte gäben im Verhältnis zum Einkommen nach wie vor weniger Geld für Energie aus;
• die Zinserhöhungen der SNB dämpften die Inflation über den Einfluss auf den Wechselkurs;
• die SNB habe im Gegensatz zu den amerikanischen und europäischen Zentralbanken keine Staatsschulden durch Geldschöpfung gekauft;
• weniger strenge staatliche Vorgaben während der Corona-Pandemie verhinderten, dass Hilfsmassnahmen ergriffen werden mussten, welche die Geldmenge stark ausgedehnt hätten – so wie es sowohl in der EU als auch in den USA der Fall gewesen sei.

Eines der Hauptprobleme für den Fachkräftemangel ist Binswanger zufolge die Akademisierung. Potenziell gute Praktiker würden zu mittelmässigen Akademikern ausgebildet, was wiederum dazu führe, dass das Niveau an den Unis durch Massenabfertigung weiter sinke – ein Teufelskreis. Zur Lösung könnten auch die Unternehmen selbst beitragen: Man müsse den Lehrlingen ihren Berufsstolz zurückgeben, sagte Binswanger. Langfristige Perspektiven müssten aufgezeigt werden. Zudem seien heute Arbeitsmodelle gefragt, die mehr Flexibilität ermöglichen. Man müsse längerfristig ohnehin wegkommen von starren Arbeitszeitmodellen, weil es in vielen Berufen zunehmend fragwürdig sei, Arbeitszeit mit Leistung gleichzusetzen.

Abschliessend wünschte sich Binswanger von der Schweiz mehr Optimismus und «dass wir das Glas nicht immer zu einem Zehntel als leer, sondern manchmal auch zu neun Zehnteln als voll sehen».

Schmelzende Gletscher und andere Herausforderungen
Auch bei ihnen sei der Fachkräftemangel akut, sagte Gian Marco Maier, Leiter Betrieb und Services der Kraftwerke Oberhasli AG, im zweiten Referat des Nachmittags. Daneben seien schmelzende Gletscher durch die Klimaerwärmung, volatile Strompreise sowie die Netzstabilität die aktuell grössten Herausforderungen der Grosswasserkraft. Zwar werde sich der Abfluss von Wasser wegen der substanziellen Abnahme von Gletschereis ändern, nicht aber die Jahresmenge, wie Maier beschwichtigte. Man müsse sich jedoch auf eine andere saisonale Verteilung einstellen. Um das anfallende Wasser zum richtigen Zeitpunkt nutzen zu können, müssten also zusätzliche Speichermöglichkeiten realisiert werden. Nur so könne auch die Netzstabilität durch Interventionsmöglichkeiten gewährleistet werden. Für die Umsetzung wichtiger Projekte brauche es die nötigen raschen Bewilligungen; hier sei die Politik gefordert.

Kein Energieverbrauch ohne Nutzen
Wie den teilweise massiv steigenden Strompreisen am besten beizukommen sei, erläuterte Selina Davatz mit wertvollen Erfahrungen aus ihrem Arbeitsalltag als Energieberaterin bei der Elektroplan Buchs & Grossen AG. Davatz betonte mehrfach die Wichtigkeit der Energieeffizienz: «Jede Kilowattstunde Energie, die nicht verbraucht wird, muss nicht produziert, transportiert und gespeichert werden.»

Mehr Effizienz und mehr Produktion
Im anschliessenden Podiumsgespräch wurden die Aussagen von Professor Mathias Binswanger rege diskutiert. Nationalrat Albert Rösti zeigte sich überzeugt, dass bei der prognostizierten Entwicklung des Energiebedarfs eine Ausweitung der Produktion nötig sei. Der Bedarf könne allein durch Investitionen in Energieeffizienz und Sparmassnahmen durch Betriebe und Haushalte nicht gedeckt werden. Selina Davatz unterstrich die Notwendigkeit, Energie effizienter zu nutzen und damit die Zunahme des Bedarfs wesentlich zu beeinflussen.

Die Unternehmersicht in der Diskussionsrunde wurde durch Nicole Wenger, Vorsitzende der Geschäftsleitung der Wenger Fenster AG Wimmis, vertreten. Die aktuelle Situation bei den Fachkräften sei alarmierend und es brauche dringend mehr Nachwuchs sowie attraktive Rahmenbedingungen für Mitarbeitende. Auch Albert Rösti unterstrich die Wichtigkeit der Berufsbildung, da die Wirtschaft auf Arbeitskräfte mit Praxiserfahrungen angewiesen sei.

Nachdem ihr Wissensdurst für den Moment gestillt war, liessen sich die Gäste die Chance nicht entgehen, beim anschliessenden Apéro mit Referenten, Unternehmerinnen und Politikern auszutauschen und neue Kontakte zu knüpfen.

PRESSEDIENST VOLKSWIRTSCHAFT BERNER OBERLAND

«Das Glas zu neun Zehnteln voll sehen»

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title