Das Adelbodner Weihnachtswunder
22.12.2023 GesellschaftWEIHNACHTSGESCHICHTE Meine Grossmutter war eine Zündschnur: War sie eingeladen, knisterte es. Und spätestens nach einer Stunde ging der Krach los. Sie meckerte an allem und jedem herum. Überdies butterte sie meiner Mutter konstant den angeheirateten Tramfahrer aufs Brot: «Ein roter Schellentramper … kommunistischer Weiberjäger … wenn ich bedenke, dass Du Buchhalter Bitterli hättest haben können, Lotti!» Meinen Vater ignorierte sie einfach. Wollte er ihr die Handschuhe küssen, wedelte sie ihn weg, wie die Kuh den Fliegenschwarm vom Mist.
Natürlich wurde die Omama nur eingeladen, wenn sonst keiner im Haus war. ABER NICHT AN WEIHNACHTEN! Da war sie der bittere Kelch, an dem alle vorbei mussten. Denn Weihnachten war Familie. Und Omama ein Teil davon.
Wir feierten in Adelboden. Immer. Und das war dem Meckerweib eh ein Dorn im Auge: «Mit Buchhalter Bitterli wärt ihr in St. Moritz, Lotti», schoss sie die ersten Pfeile ab. Dann setzte sie ihre hohen roten Pumps in den Schnee.
«Kannst Du nicht anständige Winterschuhe tragen, wie andere tattrige Weiber in deinem Alter auch? Mit deinen Haxen solltest du eh mal zum Orthopäden», wurde sie von ihrer Tochter giftig begrüsst. Das Gift lag den beiden Frauen in den Genen.
Langsam füllte sich das Chalet mit den Gästen. Die Omama hatte sich in einen schwarzen Kaminrock und Seidenblouse gestürzt – demonstrativ hockte sie auf dem Sofa. Niemand sass zu ihr. Es war die Pest, um die selbst unser Dackel-Hund einen Bogen machte. Das Theater ging schon beim Baum los: «Könnt Ihr Euch keine Edeltanne leisten? Muss es dieser rieselnde Besen sein?» Mutter atmetete durch: «Bauer Pieren hat ihn extra für uns geschlagen!» Und Vater grinste: «Es ist nicht der einzige Besen hier …»
DAS REICHTE! Noch vor «Friede auf Erden» und «Oh du fröhliche» hatte die Omama das Haus verlassen. Dies in den roten Hochhackigen. Und nur mit einer Hermes-Stola am Ranzen.
Später hat sie uns erzählt: «Der Wind fegte mich fast aus den Schuhen. Aber ihr kennt ja meinen harten Grind – für nichts in der Welt wäre ich umgekehrt. Da war ich zu stolz. Und so stöckelte ich schlotternd an diesem Heiligen Abend in Richtung Gilbach. Hinter den Fensterchen der alten Bauernhäuser funkelten Weihnachtsbäume. Ich hatte in Selbstmitleid gefrorene Tränen in den Augen und sah diese verdammte Eisstelle auf dem Weg nicht. Schon lag ich auf dem Hintern. Und spürte einen stechenden Schmerz im linken Fussknöchel …»
An dieser Stelle hatte sie wieder Tränen in den Augen: «WEIHNACHTEN – UND ICH DUMME KUH WIE EIN MAIKÄFER AUF DEM RÜCKEN!»
Gottlob kam Hilfe mit einem Traktor. Es war Berti, der Gilbach-Bauer. Ein sturer Grind, wie die Omama. Und ein Einzelgänger. Als er die Frau auf dem Boden liegen sah, fackelte er nicht lange herum. Er setzte sie auf seinen Anhänger, band sie mit einem Kuhseil fest. Und brummte nur: «Dummes Wybervolch … kannst du nicht anständige Winterschuhe tragen, wie andere Weiber auch?!»
Sie gab keine böse Antwort. Vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben.
In der alten Hütte von Berti war es gemütlich warm. Die Holzöfen gaben ihr Letztes. Und der Bauer auch. Er untersuchte den Knöchel: «Nichts gebrochen. Nur eine Verstauchung. Ich reib dir jetzt die Stelle mit Schnaps ein. Und dann stossen wir an – wie heisst du?» «Ich bin die Lydia», flüsterte die Omama.
Zu Hause wurden sie jetzt doch unruhig. Als die Omama nach zwei Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, nahm Vater die Taschenlampe: «Schöne Bescherung! Ich gehe sie suchen …» Nach einer halben Stunde stiess er auf die Hermes-Stola im Schnee, die Eisstelle, und Traktorenspuren. Als gewiefter Militarist analysierte er die Spuren – und traf die Omama vor dem Ofen, wo ihr Bauer Berti eben den sechsten Schnaps nachschenkte.
Als Vater eintrat strahlte sie ihn an: «Hans – das ist die beste Weihnachtsfeier in meinem Leben! Willst du auch einen Schnaps? Komm in meine Arme …»
Vater liess sich drücken. Und streicheln: «Du Guter, hast mich als Einziger gesucht. Wenn Bitterli auch meine erste Wahl war, für meine Lotti bist du es. Und ich glaube, sie hatte recht!»
Sie wickelten die Gestrauchelte dann in Pferdedecken und Berti fuhr das ungleiche Paar auf dem Anhänger zu uns.
Daheim liess sich die Omama aufs Sofa betten. Und kicherte: «Gebt Berti und Hans einen Schnaps. Und mir auch ... ich spüre den Knöchel überhaupt nicht mehr!» «Wo sind die teuren, roten Pumps?», rief Mamma entsetzt. «Wen kratzt es? Morgen kaufe ich Winterschuhe!», grinste die Omama. «Und jetzt her mit den Geschenken!» Dann flüsterte sie zu ihrer Tochter: «Gottlob hast du dem Bitterli einen Korb gegeben. Dieses Weichei hätte mich nie gesucht!»
Es war der Tag, an dem sich die Omama total änderte. Keine Giftpfeile mehr. Keine Zündschnur. Und nur noch Schuhe vom Orthopäden.
So ging dieses Event vom 24. Dezember als «Adelbodner Weihnachtswunder» in unsere Familiengeschichte ein.
- MINU