Begriffe zum Zeitgeschehen
01.12.2023 GesellschaftMan kann in den «Wörtern des Jahres» eine Beschäftigungstherapie für Sprachschaffende sehen. Doch ein genaueres Hinsehen lohnt sich: Die Wahl sagt einiges aus über den Zustand des Landes und über die Sorgen und Nöte seiner Bewohner.
MARK POLLMEIER
Wer sich gern über die vielen fremden Ausdrücke in unserer Sprache aufregt, muss jetzt tapfer sein. Die «Wörter des Jahres» für die Deutschschweiz lauten Monsterbank (1. Platz), Chatbot (2.) und Ghosting (3.).
Bank gerettet, Monster erschaffen
Mit dem erstplatzierten Begriff werden die meisten noch etwas anfangen können. Er geht natürlich zurück auf die Krise der Credit Suisse: Nach diversen Notsitzungen von Politik und Finanzbehörden wurde die CS schliesslich mit der UBS fusioniert. Es entstand eine monströs grosse Bank – eben eine Monsterbank. Wird man sie künftig unter Kontrolle halten können? Was geschieht, wenn die neue Schweizer Riesenbank einmal ins Trudeln kommt? Solche Fragen beschäftigten offenbar viele Menschen im Land – und so wurde die Monsterbank das Deutschschweizer «Wort des Jahres 2023».
Elektronische Plaudertaschen
Auf dem zweiten Platz findet sich ein Wort, das zwar aus dem Englischen stammt, aber vielen Leuten wohl eher spanisch vorkommen wird: Chatbot. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff so viel wie Plauder-Roboter. Chatbots sind also jene «Sprachmaschinen», die einem immer öfter am anderen Ende einer Hotline oder auf Internetseiten begegnen. Diese Anwendungen werden immer schneller, besser und realistischer im Sinne von: menschlicher. Inzwischen kann man kleine Unterhaltungen mit ihnen führen, und eine neue Generation von SchülerInnen nutzt Chatbots längst als schnelle Hausaufgabenhilfe (Stichwort ChatGPT). All das hat dazu beigetragen, dass in diesem Jahr besonders viel über sie geredet und geschrieben wurde.
Plötzlich in Luft aufgelöst
Auch Platz drei geht an ein englischsprachiges Wort: Ghosting. Mir diesem Begriff wird sozusagen das Gegenteil eines Plauder-Roboters bezeichnet, nämlich die totale Funkstille. Wer «geghostet» wird, der oder die wird komplett ignoriert – häufig, ohne dass der Grund dafür ersichtlich ist. Die Kommunikation reisst vollständig ab, so als wäre der Gesprächspartner plötzlich unsichtbar geworden wie ein Geist (engl. ghost).
Auch bei diesem Phänomen spielt sicher die fortschreitende Digitalisierung eine Rolle. Nicht nur im beruflichen Alltag, auch unter Freunden und in der Partnerschaft spielt sich heute ein Grossteil der Kommunikation digital ab, teils über grössere Distanzen hinweg. Das senkt offenbar die Hemmschwelle, andere schlichtweg aus dem eigenen Leben zu löschen. Ein paar Wischbewegungen auf dem Smartphone genügen, schon verschwindet der oder die andere buchstäblich von der Bildfläche.
Anfangs wurde der Begriff Ghosting vor allem auf private Beziehungen angewendet. Mittlerweile spricht man auch im Geschäftsleben von Ghosting, etwa, wenn sich eine Firma nach einer Bewerbung einfach nicht mehr meldet.
Vielschichtige Begriffe
Dass gerade diese «Wörter des Jahres» gewählt wurden, hat zunächst einmal statistische Gründe: Sie wurden einfach sehr häufig gebraucht. Gleichzeitig bilden sie aber auch prägende gesellschaftliche Entwicklungen ab. Der Niedergang der CS hat nicht nur die Finanzwelt durchgerüttelt – er hat das Selbstverständnis des Landes erschüttert wie zuvor wohl nur der Untergang der Swissair. Das Vertrauen in den Bankenplatz Schweiz, in Behörden und Politik hat über diese Affäre tiefe Kratzer bekommen. Und der Begriff Monsterbank illustriert, dass vielen die Lösung der Krise nicht ganz geheuer ist.
Damit ist Monsterbank nicht nur ein ökonomischer Begriff, sondern auch ein sozialer: Er bringt das Unbehagen gegenüber einer Finanzindustrie zum Ausdruck, die nicht mehr kontrollierbar scheint.
Die Technik verändert unseren Alltag
Auch die beiden anderen «Wörter des Jahres» sind vielschichtig. Vordergründig bilden sie jenen technischen Fortschritt ab, den man landläufig als Digitalisierung bezeichnet. Aber diese Entwicklung hat eben auch Begleiterscheinungen – und ob die jeweils einen Fortschritt darstellen, ist zumindest fraglich. Der Chatbot steht für die Verdrängung des Menschen aus bestimmten Bereichen der Arbeitswelt, und das Ghosting für die Veränderung der menschlichen Beziehungen.
Nebenbei zeigen mindestens zwei «Wörter des Jahres 2023», wie sehr sich unsere Sprache verändert und gewissermassen globalisiert. Gerade technische und gesellschaftliche Phänomene werden heute häufig (und manchmal ausschliesslich) mit englischen Vokabeln ausgedrückt – was jüngere Menschen offenkundig weniger problematisch finden als ältere. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass unser digitaler Alltag überwiegend von den Produkten US-amerikanischer Hightech-Konzerne dominiert wird – und die sprechen eben Englisch.
Dass auch die übrigen Landesteile einen kreativen Umgang mit Sprache pflegen, zeigen die Westschweizer, Tessiner und rätoromanischen «Wörter des Jahres». Die Französisch sprechende Schweiz ist noch relativ konsquent: décombres (Schutt, Trümmer – ein Wort, das wohl auf die vielen erschütternden Ereignisse zurückzuführen ist), intelligence artificielle (künstliche Intelligenz) und coûts de la santé (Gesundheitskosten) lauten die drei erstplatzierten Begriffe. Die Westschweiz bleibt also mehr oder weniger in der eigenen Sprache.
Tunnelsorgen, Öko-Angst
Interessanter ist die Auswahl aus dem Tessin. Auf dem ersten Platz liegt hier ein bereits genannter Chatbot, nämlich ChatGPT (ausgeschrieben: Generative Pre-trained Transformer). Auf Platz 2 liegt: tunnel. Die Wahl geht auf die Probleme zurück, die zuletzt im Gotthardtunnel auftraten, und zwar sowohl auf der Strasse als auch auf der Schiene. Dass man sich im Tessin um die wichtige Verbindung nach Norden sorgt, ist verständlich. Warum aber tunnel? Tatsächlich spricht man auch im Tessin von tunnel, wenn es um den Gotthard geht – während alle übrigen Tunnel wie im Italienischen meist galleria heissen. Auf dem dritten Tessiner Platz findet sich die ecoansia – ein Begriff, der erst in diesem Jahr in die italienische Sprache eingewandert ist. Das Wort bezeichnet das wachsende Gefühl der Sorge gegenüber dem Klimawandel – oder wörtlich übersetzt: Öko-Angst.
Echte Bündner Themen
In der Rätoromanisch sprechenden Schweiz finden sich Wörter des Jahres, die dem deutschsprachigen Landesteil nicht fremd sind. Auf Platz 1 liegt der Solarexpress, also das staatliche Programm für die Förderung von Solarenergie. Den zweiten Platz nimmt ebenfalls eine Vokabel ein, die Deutschsprachige verstehen: igl Rutsch, womit der Bergsturz von Brienz bzw. Brinzouls gemeint ist. Und auf dem dritten Platz landet ein Thema, das auch in vielen deutschschweizer Regionen die Gemüter erhitzte: regulaziun proactiva (gemeint ist die vorauseilende Regulierung von Wolfsrudeln).
Die Auswahl der Rumantschia ist damit am wenigsten global und am wenigsten gesellschaftspolitisch ausgerichtet: Alle drei «Wörter des Jahres» betreffen Themen, die wirklich schweizerisch oder sogar von regionaler Bedeutung sind.
Wie wird das Wort des Jahres ermittelt?
Ursprünglich gab es für den deutschsprachigen Raum ein gemeinsames «Wort des Jahres». Weil das jedoch immer öfter einen starken Deutschland-Bezug hatte, entschieden Österreich und die Schweiz irgendwann, eigene Wörter des Jahres zu wählen.
In der Deutschschweiz gibt es das Wort des Jahres seit 2003. Seit 2017 wird es von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ermittelt. Sprachforscher-Innen des dortigen Departements Angewandte Linguistik erstellen eine Liste mit einigen Dutzend «Wortkandidaten». Die Auswahl beruht auf einer riesigen digitalen Textsammlung (rund eine Milliarde Wörter), auf Einsendungen aus der Bevölkerung und auf Vorschlägen der Jury-Mitglieder. Die Jury selbst besteht aus «Sprachschaffenden» aus Journalismus, Kunst und Wissenschaft.
Ausgewählt werden schliesslich drei Siegerwörter. Sie sollen Themen widerspiegeln, die in der Deutschschweiz im zu Ende gehenden Jahr zu reden gaben. Auch die Wörter selbst sollen einen Schweizbezug haben (worüber man in diesem Jahr zumindest streiten könnte). Dasselbe Prozedere wird parallel in allen Landessprachen mit je eigenen Jurys durchgeführt.
POL