DAS RASCHELN IM BLÄTTERWALD

Ich bin ein unangenehmer Zugsitznachbar: Sobald ich Platz genommen habe, zücke ich meine Tageszeitung und beginne mit der raumgreifenden, raschelnden Lektüre. Offen zurechtgewiesen hat mich bislang niemand. Doch manche werden sich ihre Gedanken machen, sich stirnrunzelnd abwenden, wenn ich mich mal wieder ausbreite, und die Lärmemissionen zu ignorieren versuchen. Und sie werden sich vielleicht denken: Was für ein Alien …
Kürzlich begann mein nostalgieanfälliges Herz heftig zu hüpfen, als ich in meiner Print-Zeitung (wo denn sonst?) auf die «Woche des Zeitungslesens» stiess. Durchgeführt wird sie jährlich in Wien, der Stadt der Kaffeehäuser. Die Aktion soll dazu dienen, das einst obligate Blätterrascheln in diesen Lokalen wieder aufleben zu lassen. Immerhin, so erfuhr ich im Artikel, lesen in Wiens Kaffeehäusern noch 38 Prozent der Gäste gedruckte Zeitungen. Nicht selten wird das Gelesene danach mit den Nachbarn diskutiert.
Sobald ich der Nostalgie erliege, neige ich meist auch zur Verklärung. Ich führte mir die Vergangenheit vor Augen, als man sich hierzulande noch in der Lokalbeiz traf, am Stammtisch womöglich neben Andersdenkenden sass und Themen ausdiskutierte – etwas, das uns zunehmend abhandenkommt, da wir uns bevorzugt im digitalen, gesichtslosen Raum unter Gleichgesinnten aufhalten.
Inwiefern am Stammtisch von früher unterschiedliche Meinung überhaupt zugelassen und ob sie sachlich erörtert wurden, ist die eine Frage. Und die andere ist: Wie würde ich reagieren, wenn man eine «Woche des Zeitungslesens» plötzlich in Schweizer Zügen ausriefe? Bestimmt würde ich mich ärgern, wenn meine Zeitungsseiten von jenen des Sitznachbarn touchiert würden oder wenn mein eigens produziertes Rascheln im Sound des aufgeschlagenen Blätterwaldes unterginge. Bestimmt wäre ich zudem irritiert, wenn mich jemand anspräche, um sich über den Zeitungsinhalt auszutauschen.
Alles in allem kann ich also sagen: Ich trauere der Vergangenheit zwar durchaus nach. Aber ich fühle mich zugleich gar nicht so unwohl in der Rolle des Aliens.

JULIAN ZAHND

J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH

SCHLUSSPUNKT

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