Die schwarze Uhr

Er hiess Abraham. Aber niemand nannte ihn so. Für die Oberländer war er der «Äbu». Beim Namen setzten sie noch einen kleinen Dreckspritzer drauf: «e chly eigelig.»

Äbu war Einzelkind. Seine Mutter war früh gestorben – und Dänu, sein Vater, wütete als Grobian im Haus.
Er züchtigte den Buben mit Schlägen und Kopfnüssen zum Bauern heran. Immerhin gab es einen Hof zu bewirtschaften. Und für Knechte war kein Geld übrig.
«Geht’s vielleicht ein bisschen sanfter…?», intervenierte meine Mutter, wenn der Alte wieder mal seinen Sohn im Suff verprügelte.
«Halte dich raus, Du Wyybervolch!», erhob der Vater zornig die Stimme und zeigte die Faust.
Äbu blutete am Kopf. Und Mutter nahm ihn an der Hand: «Du kommst mit mir – wir müssen das desinfizieren.» Zu Hause verarztete sie den Jung-Bauern: «So geht das nicht, Abraham. Du bist bald 30. Kuschst vor deinem Vater. Und versaust dir dein ganzes Leben bei diesem Trunkenbold. Geh weg. Oder schlag zurück – du bist doch stärker als er…»
«Ich kann meinen Äddü nicht schlagen», sagte er entsetzt. «Und weg kann ich schon gar nicht – wer schaut dann zum Hof?»
«Hast du nie etwas anderes machen wollen?»
Er zögerte. «Ich wäre gerne Uhrmacher geworden. Ich liebe Uhren. Unsere alte, schwarze Holzuhr habe ich repariert. Nach fast 40 stummen Jahren tickt sie wieder. Und schlägt die Stunde…»
Äbu’s Stimme wurde nun leiser: «Als meine Mutter starb, ist die Uhr stehengeblieben. So hing die Pendule 37 Jahre stumm an der Wand. Als ich sie auseinandernahm, hat mich mein Vater blau geschlagen: «Es ist die Erinnerung an deine Mutter…Wie kannst du es wagen…»

Meine Mutter klopfte Äbu nun aufmunternd auf die Schulter: «Ich rede mit dem Alten…»

Wie so oft, hat sie dann Wunder vollbracht. Sie machte Dänu klar, dass der Junge nebst dem Hof noch etwas anderes brauche. Und mit dem Reparieren von alten Uhren sei gutes Geld zu machen.
Das mit dem Geld traf ins Schwarze. Künftig reparierte Äbu die alten Wecker, Taschenuhren und Pendulen im Ort. Der Vater brummte nicht mehr – und als er starb, blieb die schwarze Uhr genau in seiner Todesstunde stehen.
Äbu war total verstört. Erzählte Mutter die Geschichte – doch die holte ihn auf den harten Boden zurück: «Solche Dinge gibt es – Zufall? Oder auch nicht. Man sollte so etwas nicht hinterfragen. Verkaufst du den Hof?»
Er schüttelte den Kopf: «Sicher nicht, Lotti. Ich bin jetzt zu alt, um neue Wege zu gehen…»

Als meine Mutter kurz vor ihrem 60. Geburtstag ins Koma fiel, verwaiste unser Chalet. Zwei Jahre hatten wir keine Minute übrig, um das Haus zu besuchen. Wir besuchten die schlafende Gestalt jeden Tag an ihrem Bett.
Eines Morgens kam die erlösende Nachricht aus dem Spital: «Sie ist in der Nacht friedlich eingeschlafen…»
Fünf Minuten später rief Äbu an: «Ist etwas mit dem Lotti? Die Uhr ist heute Nacht stehengeblieben…»
Ich habe Äbu dann aus den Augen verloren. Nach seinem Tod wurden Land und Haus verkauft. Zusammen mit meiner Nachbarin Käthi betrat ich die leere, alte Stube mit den kleinen Fenstern und dem erkalteten Holzofen. «Wo ist die schwarze Uhr?», fragte ich Käthi.
Sie zuckte mit den Schultern: «Ach die? – Die ist am Tag seines Todes stehengeblieben. Und keiner hat sie gewollt!»

In der Brockenstube entdeckte ich die Pendule stumm an der Wand. Ich kaufte sie. Hängte sie im Chalet auf. Und habe sie bis heute nie aufgezogen.

- MINU

MINU@MINUBASEL.CH

UNTERLÄNDER IM OBERLAND – Die schwarze Uhr

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