Die Lust an der Krise

Nicht erst heute ist es weitherum populär, die westliche Zivilisation im Niedergang zu wähnen. «Unsere Volksschule wurde ruiniert», klagt «Nebelspalter»- Chefredaktor Markus Somm, derweil die SVP ein «Asylchaos» beschwört und wegen ein paar EU-Verträgen das Verschwinden der Eidgenossenschaft befürchtet.

Besonders groteske Blüten treibt die Untergangsstimmung in Deutschland: Das Land befinde sich «am Abgrund», es sei «ein Irrenhaus», die Sicherheitslage «bürgerkriegsähnlich». Und ein anonymes Schreiben an Immigranten in der Schweiz lautete: «Sie haben unser schönes Land in eine von Ausländern verseuchte, zu dicht besiedelte, zu teure und kulturell entfremdete Bruchbude verwandelt.»
Die Absender sind vermutlich Rechtsextreme. Und ja: Obschon auch linksgrüne Aktivisten angesichts des Klimawandels gerne mal das Ende der Menschheit prophezeien, so ist das grosse Krisenempfinden doch vor allem in der politischen Rechten beheimatet. Es sind diese Kreise – in Deutschland namentlich die AfD, nicht zu reden von Donald Trump –, die den Zerfall der altbewährten Gesellschaft wahlweise als Realität oder als unmittelbare Gefahr propagieren.
Nun steht es zurzeit ja tatsächlich nicht zum Besten um die Welt, und gerade Deutschland kämpft mit erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Dennoch arbeiten zahllose Unternehmen erfolgreich wie eh und je, der Frankfurter Börsenindex DAX steht auf Rekordwerten; einige Minusprozente beim BIP sind schmerzhaft, aber noch lange kein «Abgrund». Woher also der Hype?

Der Forschung zufolge verursacht Angst im Gehirn biochemische Prozesse, die wesentlich wirksamer sind als positive Gefühle. «Die heutige Rechte ist geradezu besessen von Untergangsszenarien», notiert der nordirische Buchautor Richard Seymour; er nennt es «Katastrophen-Nationalismus». Für reale gesellschaftliche Probleme wollen Sündenböcke gefunden werden, meist müssen «Ausländer» oder sogenannte «Eliten» dafür herhalten. Vermeintlich Schuldige für eigenes Leid benennen zu können, so Seymour, schaffe nicht nur simple Erklärungen, sondern auch eine Lust-Erfahrung – was populistische Parteien an der Urne zu nutzen wissen.

Wer also sein Land mit krassen Übertreibungen schlechtredet und Ressentiments gegenüber den angeblich Verantwortlichen hegt, erlebt einen emotionalen Gewinn. Hier liegt eine Wurzel des rechtsradikalen Denkens.

Ebenso angenehm scheint es dabei zu sein, sich als Opfer zu fühlen. Diese Opfer-Mentalität wiederum grassiert nicht nur bei der Rechten, sondern auch ganz lonks: «Wokeness» nennt man das dann. Welch sonderbare Gemeinsamkeit – les extrèmes se touchent.

TONI KOLLER

TONI_KOLLER@BLUEWIN.CH

QUERGESEHEN - Die Lust an der Krise

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