ZWISCHEN BERG UND BERN - Frohe Weihnachten, Shuzhen

  10.12.2024 Kolumne

Frohe Weihnachten, Shuzhen

Ich denke an Shuzhen. Irgendwo in Taiwan ist bald wieder Morgen, und Shuzhen wird aufstehen, sich vermutlich unter die Dusche stellen, ziemlich sicher etwas frühstücken, garantiert aber das Haus verlassen, mit dem Fahrrad ein paar Kilometer bis zur Fabrik fahren, sich einstempeln und seinen Arbeitsplatz aufsuchen. Er überwacht eine Maschine, die kleine Plastikteile stanzt, welche dann als Unterboden in ein aus drei (manchmal auch nur zwei und manchmal fünf) solchen Teilen zusammengesetztes Spielzeugauto gesetzt werden. Shuzhen sieht nur die Unterböden; die Teile werden am Ende eines Fliessbandes von einer Maschine übernommen, das Zusammensetzen geschieht ausserhalb seines Blickfeldes.
Tausende dieser zusammengesetzten Plastikautos werden bereits verpackt und weitergesendet, als Shuzhen auf einem Geländer vor der Fabrik sein Mittagessen zu sich nimmt. Viele Tausend mehr folgen ihnen gegen Abend, wenn er auf seinem Fahrrad wieder nach Hause fährt und sich dort in die Küche setzt.
Ich würde zu gern wissen, wie er sich fühlt. Das weiss ich aber nicht.
Ich weiss, dass einige Wochen später mein Kind im grossen Coop unbedingt ein buntes Heftli kaufen will, in dem einige lieblose Comics zu finden sind, ein paar anspruchslose Rätsel und – in die Plastikhülle mit eingepackt – eines von Shuzhens Spielzeugautos, mit der Aufschrift «Made in Taiwan» am Unterboden. Ich sage «Nein, wir kaufen keinen Kehricht» und lasse mich einige Diskussionen später darauf ein, wenigstens ein ebenso wertloses Heft zu kaufen, bei dem immerhin eine Playmobil-Figur dazugepackt ist, die unser Kind auch nicht braucht, aber immerhin benutzen könnte. Ich sehe, wie neben uns Florian, der kleine Bruder eines Schulkameraden unserer Tochter, von seinem Vater das andere Heft gekauft bekommt. Ich weiss nicht, ob Florian mit dem Auto spielen wird. Jedenfalls wird zwei Tage später sein grosser Bruder achtlos darauf treten, wobei der hintere Teil des Fahrzeugs zerbricht. Florian wird vielleicht kurz weinen, bevor die Eltern den Müll rausstellen dürfen. Vielleicht macht er auch ein Riesentheater, und das ruinierte Spielzeug muss trotzdem noch eine Woche behalten werden. Vielleicht wirft er das Auto auch selbst direkt weg, weil es bedeutungslos ist. Jedenfalls wird es zehn Tage danach keine Rolle mehr spielen.
Ich denke an Shuzhen, der vielleicht gerade wieder in seiner Küche sitzt. Ich frage mich, ob es ihn deprimiert, dass er in den letzten zwei Tagen kaum etwas zu tun hatte, weil sie aktuell einteilige, violette Hartplastik-Kinderkämme durch seine Maschine pressen lassen – sinnlos geformte Dinge, die zu sehr strubbeln, um benutzt zu werden, und die zerbrechen, wenn sich jemand einmal aus Versehen daraufsetzt.
Vielleicht kümmert ihn das abends in seiner Küche auch gar nicht. Vielleicht kümmert ihn nur, wann er seine Grosskinder wieder einmal sehen wird. Seine Tochter arbeitet in China in einer Fabrik, die ebenfalls für die grosse Nachfrage auf dem westlichen Markt Müll «Made in China» produziert. Shuzhens Tochter isst ungesund, Shuzhen macht sich Sorgen. Vielleicht denkt er auch: «Immerhin stanzen wir momentan nicht diese ferngesteuerten Autos, die riesig sind und deren Achsen beim dritten Zusammenstoss mit einem Türrahmen irreparabel abbrechen.» Vermutlich denkt er auch das nicht. Vermutlich läuft der Fernseher und ist lauter als seine Gedanken. Vielleicht sieht er eine ähnliche Werbung für unverzichtbare Weihnachtsgeschenke, wie sie gerade im Wohnzimmer von Florians Familie läuft. Florian will sie alle, und seine Mutter seufzt.
Ich denke an Shuzhen, immer wenn ich «Made in Taiwan» und «Made in China» lese. Das passiert recht oft, und ich wünsche ihm und seiner Tochter eine frohe Weihnachtszeit. Sie werden als Taoisten zwar nicht feiern, aber vielleicht haben sie ja mal Zeit für ein Gespräch, einen bedeutungsvollen Austausch, eine echte Begegnung, eine Weiterentwicklung ihrer Beziehung. Das wünsche ich ihnen.
Uns allen wünsche ich das auch, möglichst viel davon.
Bevor wir dann den Müll rausstellen.

CHRISTOPH TRUMMER

WWW.TRUMMERONLINE.CH


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