Weihnachtlicher Konjunktiv

Heute müssen Sie stark sein, liebe Leserin, lieber Leser: Weihnachten wird (vielleicht) abgeschafft! Dies ist jedenfalls mein Vorschlag. Ja, Sie haben richtig gelesen. Ich, der fromme Kirchgänger und bekennende Christ, schlage allen Ernstes vor, Weihnachten zumindest in der Schweiz abzuschaffen. Kein Weihnachtsfest, kein Krippenspiel, kein Weihnachtsbraten, keine Kerzen, keine Geschenke, kein Garnichts.
Sobald Sie Ihre Fassung wiedergewonnen haben (und falls Sie überhaupt noch gewillt sind weiterzulesen), werde ich Ihnen selbstverständlich und gerne erläutern, wie ich diesen zugegeben etwas radikalen Vorschlag begründe.

Dazu müssen wir zunächst allen Glimmer, Glanz und Spektakel der Festtage weglassen und uns ganz auf den (christlichen) Ursprung des Weihnachtsfests konzentrieren: die Geschichte der Heiligen Familie und die Geburt Jesu, wie sie im neuen Testament der Bibel festgehalten ist. Dabei kann man die gesellschaftspolitische Dimension dieser Geschehnisse fast nicht übersehen. Nichts weniger als «Frieden auf Erden» verkündet da zum Beispiel ein himmlisches Heer von Engeln den verblüfften Hirten auf dem Feld. Was für ein Anspruch im alten Orient!

Dass Maria und Josef mit ihrem Kind wegen staatlicher Repression aus Bethlehem nach Ägypten fliehen mussten, wird bei den koptischen Christen gemeinsam mit den Muslimen in Ägypten als zentrale Botschaft von Weihnachten zelebriert und betrauert. Diese Feiern werden von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe der Menschheit gelistet. Bei uns wird dieser Teil der Weihnachtsgeschichte eher ausgeblendet. Menschen auf der Flucht passen nicht so gut in unsere glamourösen Weihnachts-Schaufenster.
In unseren Krippenspielen darf die Legende des Wirtes dennoch nicht fehlen, der die schwangere Maria und Josef nicht in seine Herberge lässt und ihnen stattdessen einen Platz im Stall anbietet. Soziale Ungerechtigkeit, Ausgrenzung, Menschen auf der Flucht oder fehlender Frieden: Die Weihnachtsgeschichte könnte uns für solche Missstände sensibilisieren und zu mehr Gerechtigkeit, Anteilnahme, Friedfertigkeit oder Offenheit führen. Weihnachten könnte diese urchristlichen Werten hochhalten und in uns neu erstrahlen lassen.

Der resignierte Konjunktiv in meinen Worten zeigt meine diesbezügliche Stimmungslage. Die Realität sieht, zumindest in unseren aktuellen politischen Debatten, ganz anders aus: Die Möglichkeit des Familiennachzugs für vorläufig aufgenommene Personen sollte nach dem Willen des Nationalrats gestrichen werden. Davon wäre eine besonders verletzliche Menschengruppe in unmenschlicher Weise betroffen. Dabei halten wir doch das Recht auf Familie gerade an Weihnachten besonders hoch.

Erfreulicherweise hielt nun der Ständerat knapp dagegen. Doch die Geisteshaltung der Mehrheit unserer Volksvertretung wird damit klar ersichtlich. Vom Nationalrat wurde nämlich ebenfalls gefordert, die Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit drastisch zu kürzen, obwohl uns die Weihnachtsgeschichte den Frieden auf Erden vor Augen stellt.

Als wäre dies nicht schon genug an unweihnachtlichem Abbau, hat das Parlament zudem beschlossen, den Schutzstatus S für Menschen aus der Ukraine stark einzuschränken und nur noch in ganz bestimmten Fällen zuzulassen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer benötigen eigentlich gerade jetzt unsere Solidarität und unsere Hilfe.

Mein Fazit: Weihnachten ist schon abgeschafft. Was übrig bleibt, ist nur eine zerrissene und zerknüllte Geschenkpackung ohne Inhalt, die man nun getrost ebenfalls entsorgen kann. Vielleicht könnte ja daraus wenigstens eine Chance entstehen, Weihnachten neu zu entdecken und unsere Haltung gegenüber notleidenden Menschen zu überdenken. (Wieder ein Konjunktiv, diesmal aber hoffnungsvoll und zuversichtlich.)

In diesem Sinne: frohe Weihnachten! Geniessen Sie das Fest und den Weihnachtsbraten. Es könnte das letzte Mal sein.

HANS PETER BACH

HANSPETER.BACH@LIVENET.CH

DERFÜR U DERWIDER - Weihnachtlicher Konjunktiv

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