PIONIERE UND ANDERE GRÜSEL

Kürzlich rettete ich auf einem italienischen Bahnhof-WC ein kleines bisschen die Welt, und das kam so:
Oberhalb der Schüssel war ein Schild angebracht. Darauf in Grossbuchstaben die Bitte, man solle doch nach dem Toilettengang die Spülung betätigen. Ich fragte mich kurz, weshalb man diese Selbstverständlichkeit extra beschildern muss. Der Blick in die Schüssel lieferte postwendend die Antwort.
Warum sind öffentliche WCs – wo auch immer – praktisch nie sauber? Verantwortlich dafür, so meine Kurzanalyse, sind zwei Menschen typen: Pioniere (Typ 1) und Trittbrettfahrer (Typ 2). Angewendet auf das italienisch-Bahnhof-WC-Beispiel heisst das:
• Jemand muss den ersten Schritt machen und die zuvor saubere Toi lette einsauen (Typ 1a, «Pionier-Grüsel»; Vorkommen: eher selten; Einfluss: gross).
• Jene, die danach kommen, denken sich dann: «So gruusig! Aber wenn der vorher nicht gespült hat, tue ich das sicher auch nicht!» (Typ 2a,
«Trittbrettfahrer-Grüsel»; Vorkommen: sehr häufig; Einfluss: klein, aufsummiert mit allen anderen dann aber riesig).
Sind diese beiden Typen am Werk – und das sind sie eigentlich immer, nehmen die Dinge ihren Lauf, und am Ende sehen die öffentlichen Toiletten dann so aus, wie sie eben meistens aussehen.
Ich kam daraufhin ins Zweifeln: Wie sollen wir Menschen den ganzen Planeten sauber halten, wenn wir das nicht einmal in einem öffentliche Klo schaffen? Kann man sich noch auf die menschliche Solidarität verlassen, wenn diese bereits an einem Spülknopf endet? Man müsse die grossen Hebel in Bewegung setzen, um die Dinge zu verändern, heisst es oft. Doch müssten da nicht zuerst einmal die kleinen Einzelhebelchen funktionieren?
Nachdem ich einen Moment lang vor mich hinverzweifelt war, kam der rettende Gedanke: Vielleicht funktioniert das Pionier-Trittbrettfahrer-Prinzip ja auch umgekehrt! Ich drückte den Spülknopf. Und es fühlte sich fast so an, als hätte ich ein kleines bisschen die Welt gerettet.

JULIAN ZAHND

J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH

SCHLUSSPUNKT

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