Rote Nelken

Mein Vater trug rote Socken. Und rote Nelken.

Weiss der Himmel, woher er die Macke mit der Blume im Knopfloch hatte. «UND DANN NOCH ROT!», tobte die Omama gegenüber ihrer Tochter, als ihr Schwiegersohn mit der schreienden Blume im Knopfloch zur Hochzeit in der stillen Kirche erschien: «So etwas ist für Proleten. Spritz ihn um, Lotti!»

Die Nelken wurden ein Leben lang zum Zankapfel in der Familie. Als der schöne Stammhalter geboren wurde, tauchte der Erzeuger am Bett der ermatteten Mutter mit einem müden Strauss roter Nelken auf. Eine barmherzige Floristin hatte das Trauerspiel mit etwas Asparagus aufgemotzt. Die Gattin aber wedelte das flaue Bouquet sniefend weg: «ICH HASSE NEL-KEN – SCHAFFT MIR DEN MANN UND DIE BLUMEN RAUS!»

Für Mutter gehörten Nelken auf den Friedhof. Oder ins Haar zwielichtiger Tänzerinnen. Sie war da der stolze Chrysanthemen-Typ. Chrysanthemen blühten bei ihr in allen Varianten um die üppige Figur: als seidene, flatternde Accessoires wedelten sie angepinnt über dem Busen am Cocktailkleid. Sie versprühten den Duft von Chanel 5, sodass sich manchmal auch eine Biene ins falsche Glück verflog …

Weiss der Teufel, wie Vaters Nelke ins Knopfloch kam. Vermutlich bei Fred Astaire abgeguckt. Oder bei Prinz Bernhard? Doch mein Vater war weder Tänzer noch Prinz. Überdies waren die Nelken von Fred Astaire und Bernhard w e i s s. Sie sollten die Unschuld im Knopfloch symbolisieren. Bei Vater aber symbolisierte das feurige Rot die Kraft der Politik. Er war ein Kämpfer. Ein Gewerkschafter. Und ein Sozialist, den die Omama bis zum bitteren Ende «den roten Hund» nannte.
Bref: keine Spur von Unschuld!

Wenn er als Wagenführer der Tramlinie 6 im Depot aufkreuzte, gab die Nelke seiner ziemlich biederen Uniform doch etwas Brillanz. Die Frauen jedenfalls himmelten ihren Fahrer an. Und wenn ihm eine besonders gefiel, zupfte er die Blüte, die er vornehm «meine Boutonniere» nannte, aus dem Schlitz. Und überreichte sie der Schönen mit einer eleganten Verbeugung: «Eine Nelke für die schönste Blume dieser Frauenwelt …»

So wurden ganze Nelkenfelder aus dem spanischen Aragonien im Sechsertram verteilt.

Fuhren wir in die Berge, trug Vater Doppelrot: die gezöpfelten Wollsocken zur Kletterpartie und die rote Nelke als Symbol seiner politischen Gesinnung.

So war der Krieg im «Bären» vorprogrammiert – spätestens nach dem vierten Schnaps nahmen die ansonsten so schweigsamen Bauern die Nelke aufs Korn: «Bist du der halbseidene Blumen-Hansi? Wie wär’s mit einem rosa Enzian!» Sie konnten sich gar nicht mehr einbringen vor Lachen. Und mein Vater tobte: «Diese rote Nelke ist das Kampfsignet gegen so engstirnige Armleuchter wie euch …die Welt muss sich verändern. Sie kann nicht im Kuhmist stecken bleiben!» ABER HALLO ! Dann ging das Politisieren los. Man haute links wie rechts mit Fäusten auf den Tisch. Doch spätestens nach dem neunten Schnaps lag man einander in den Armen. Vater schenkte den Rest seiner zerfetzten Nelke dem Pieren Godi und erklärte am anderen Tag daheim: «Mit den Oberländern politisiert es sich am schönsten. Sie haben ihre Meinung – ich habe meine. Aber irgendwie passt alles zusammen …»

Mutter zupfte an ihrer angefransten Chrysantheme am Revers: «Das denkst du dir schön, Hans. Die lachen doch alle über dich. Ein Sozialist hat in dieser Hochburg Andersdenkender so wenig Sympathien wie hundert Ratten im Käselager …»
Mutter täuschte sich.

Als wir Vater zu Grabe trugen, fuhren die Oberländer mit drei Autocars in Basel ein. Köbi hebelte mit seiner einfachen Abschiedsrede sämtliche linken Starpolitiker, die den Gewerkschafter in blumigen Worten verabschiedeten, ganz klar ins Out: «Hans, du warst stets einer von uns. Auch wenn wir im Oberland eine andere Farbe zeigen …»

Dann legte er einen riesigen Strauss von Nelken auf den Sarg. Feuerrote Blüten. Ein letzter Gruss von den Feldern aus Aragonien …

- MINU

MINU@MINUBASEL.CH

UNTERLÄNDER IM OBERLAND - Rote Nelken

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