Vom Sturm verweht

Es gibt Situationen im Leben, da wird von einem Moment auf den nächsten alles auf den Kopf gestellt und man weiss nicht mehr, wo oben und unten ist. Es fühlt sich an, als würde man ganz fest durchgerüttelt werden. Ich hatte ein solches Erlebnis auf meiner Abschlussreise in Prag während der Lehrzeit als Automobilmechatroniker. Wir genossen als ganze Klasse ein gemeinsames Abendessen und feierten anschliessend den Abschluss unserer Reise im Ausgang. Es wurde an diesem Abend ziemlich viel Alkohol konsumiert – auch von mir – und deshalb kann ich mich ehrlich gesagt nicht mehr an alles erinnern. Was ich noch genau weiss, ist, wie ich früh am nächsten Morgen unter einer Brücke erwacht bin und beim Aufstehen bemerkte, dass mit meinem Fuss etwas nicht stimmt. Meine Selbstdiagnose war Bänderriss und so beschloss ich trotz grosser Schmerzen, den Rückflug mit den Klassenkameraden anzutreten und meine Verletzung im Spital Frutigen untersuchen zu lassen. Dort angekommen, teilte mir bereits die Pflegefachfrau auf dem Notfall mit, dass es sich vermutlich um eine etwas ernstere Verletzung handle. Sie sollte recht behalten: Fussgelenk ausgerenkt und mehrfacher Wadenbeinbruch – so lautete die Diagnose. Für mich bedeutete dies, dass in einer ersten Operation das Fussgelenk wieder eingerenkt wurde und der Bruch extern fixiert werden musste. Danach war eine Woche Hochlagern angesagt, damit die Schwellung zurückgehen und der Bruch schliesslich mittels Platte und Schrauben in einer weiteren Operation stabilisiert werden konnte.
Zu allem Übel hatten sich einige aus unserer Klasse vermutlich beim gemeinsamen Abendessen einen Infekt eingefangen. Ich zählte leider auch zu dieser Gruppe und litt sehr darunter, bis ich schliesslich die lindernden Antibiotika bekam. Meine Kräfte waren schwach und ich konnte mich kaum für längere Zeit konzentrieren. Nicht die besten Voraussetzungen also, um sich für den kurz bevorstehenden Lehrabschluss vorzubereiten. Am Ende gab es trotzdem ein Happy End mit erfolgreichem Lehrabschluss in regulärer Zeit. Es sollte jedoch eineinhalb Jahre dauern, bis ich zum ersten Mal wieder einen Tropfen trank. Noch viel länger dauerte es, bis ich mir diesen Zwischenfall vergeben konnte, da mir ein solches Verhalten grundsätzlich widerspricht.
Alkohol ist eine gesellschaftlich anerkannte Droge, deren Risiken vermutlich jeder kennt – oder manchmal vielleicht eben doch nicht, wie auch meine Geschichte zeigt. Dennoch scheint mir eine Abhandlung über diesen Themenaspekt hier unnötig zu sein. Ich möchte viel lieber darauf eingehen, wie viele Dinge ganz plötzlich unwichtig und wenige S achen plötzlich ganz wichtig werden, wenn man am Tiefpunkt ist. Oftmals sind es Dinge, die im Alltag nicht immer so cool erscheinen, beispielsweise Eltern oder der Glaube. Letzterer besagt ja, dass ein kluger Mann sein Haus auf Felsen und nicht auf Sand baue. Schade nur, dass ich oft erst dann daran denke, wenn mein schönes Strandhaus mal wieder vom Sturm verweht wurde und ich zurück auf die Baustelle des anderen Hauses gehe, dessen Bau etwas länger dauert, da das Material härter zu bearbeiten ist. Wie so oft ist jedoch auch hier nicht der einfachste Weg der Beste.
Was ich weiss: Das Ereignis hat nebst einer 15 cm langen Narbe viele weitere Spuren an mir hinterlassen, wie die Frage danach, was im Leben wirklich wichtig ist. Ein Teil meiner Antwort ist Familie, weshalb ich im August auch heiraten werde. Wie würde Ihre Antwort lauten?

BENJAMIN HOCHULI

BENI_HOCHULI@GMX.CH

KOLUMNE – ING.EDANKEN

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