Aus dem Druggli

Schnee war nicht meins. Ich liebte tanzende Schneeflocken draussen vor dem Fenster. Aber noch mehr liebte ich es, die eisige Landschaft wunderbar geschützt von der Stube aus zu bewundern – am warmen Ofen. Hier war ich weit weg von dieser unfreundlichen Kälte, die sich wie eisige Geisterfinger durch lange Unterhosen (die damals noch ein kuttelartiges Innenleben führten) und feuchte Strickpullover schlängelte.
KURZ: ICH HASSTE KÄLTE. Ich hasste den Winter. Und ich hasste dieses Gefühl, als würden tausend Nadeln auf meine Zehen einstechen, weil meine Skischuhe zu eng und meine Wollsocken klitschnass waren. NEIN. WINTER WAR NIE MEIN DING.

ABER: Statt mich in Ruhe auf der Ofenbank «Emil und die Detektive» lesen und überleben zu lassen, machte mein lieber Vater die Jahreszeit zum Terror für den Buben: «Los! Los! Wir dulden keine Stubenhocker – raus an die frische Luft! Und rauf auf die Skis!»

Man schützte Enzian und die Alpenrose – aber nicht kleine, frierende Buben. UND DIESER HIER HATTE NULL BOCK, SICH IN STEMMBÖGEN ZU ÜBEN!

Viel lieber als am Bügellift zu hangen, wäre ich mit meiner Mutter ins Dorf spaziert.
Die Mamma war schön. Gross. Und dick. Nie hätte sie Hosen getragen («Darin sieht jedes Füdle mit Kleidergrösse 48 wie ein abgesessenes Sofa aus!»).

Auch Skischuhe waren für sie ein No-Go: «Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir mit so etwas Unschönem an den Zehen herumlaufen, hätte er uns als Traktor auf die Erde geschickt.»

Also stöckelte sie auch bei 10 Grad minus und Glatteis mit Pelz und Pumps über die spiegelglatten Wege. Zwei Mal bezahlte sie teuer dafür: einmal Knöchel-, einmal Armbruch. Aber noch im Krankenwagen belehrte sie den Arzt: «Ja, ja – es sind unpassende Schuhe für die Wintersaison. Aber Eleganz kennt keinen Schmerz – geben sie mir jetzt endlich das verdammte Morphium, Sie Quacksalber!»
Der Arzt winkte grinsend ab: «Sie bekommen Kamillentee, meine Liebe – Schönheit muss leiden.»

«Das Lotti ist immer wie aus dem Druggli», seufzte Oeschters Änneli in seinen gummigen Miststiefeln stets neidisch, wenn die Mamma wie die Königinmutter an ihm vorbeiparadierte. Doch als die Gute dann mit Blaulicht abtransportiert wurde und mit einem unglaublich hässlichen Gips aus dem Dorf zurückgekarrt wurde, seufzte Änneli zufrieden: «Hochmut kommt vor dem Fall!»

Natürlich war es nun an uns, die Gute drei Wochen lang auf Pierens Heuschlitten den mühsamen Weg vom Boden ins Café Schmid zu stossen. Der knochenklapprige Edi, der immer ein Auge auf die Üppigkeit seiner Nachbarin geworfen hatte, malte den Schlitten für sie elfenbeinfarbig an. Das Kind aber keuchte sich stossend in diesen verdammt klobigen Skischuhen und pflotschnass vor Anstrengung hinter dem Gefährt die Seele aus dem Leib. Jetzt mischte sich die Nässe des Winters mit den Schweisstropfen in der Wolle. KEIN SCHÖNES GEFÜHL, KANN ICH EUCH SAGEN.

Als die gute Mutter dann viel zu früh starb und sich für die Abdankung in Basel zwei Autocars aus Adelboden angemeldet hatten, wischte Vater sich die Tränen aus den Augen: «Die Oberländer sind halt wahre Freunde – wir legen sie in ihrem schönsten Kleid in den Sarg.»
Diesmal waren es die Nachbarn und Bauern, die an ihr vorbeiparadierten.
Ich stand heulend am Sarkophag, wo ’s Änneli die Leiche lange betrachtete. Dann putzte es sich mit seinem besten Taschentuch die Nase: «Ja, ja, das Lotti – immer wie aus dem Druggli!»

- MINU

MINU@MINUBASEL.CH

UNTERLÄNDER IM OBERLAND - Aus dem Druggli

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