So ist der Föderalismus nicht gedacht

  17.12.2021 Analyse

Heute wird der Bundesrat wohl verkünden, welche Corona-Massnahmen für die nächsten Wochen gelten sollen. Vorangegangen war ein zweiwöchiges Prozedere aus Beratung, gegenseitigen Schuldzuweisungen und verunglückter Kommunikation. Als Bürger, der diese wiederkehrenden Rituale beobachtet, fragt man sich: Muss das jedes Mal so sein?

Ein Haus steht lichterloh in Flammen, aus den Fenstern winken verzweifelte Menschen. Zum Glück ist die Feuerwehr mit mehreren Fahrzeugen vor Ort. Doch statt zu löschen, sind die Einsatzkräfte in Diskussionen verwickelt. Wer hat hier eigentlich das Kommando? Welches Strahlrohr soll zum Einsatz kommen? Braucht es zur Rettung eine Drehleiter – und falls ja, welches Fahrzeug soll sie ausfahren?

Eine absurde Situation, gewiss. Aber manchmal hat man den Eindruck: Genau so funktioniert während der Pandemie das Zusammenspiel von Bund und Kantonen. Spitalleitungen schlagen reihenweise Alarm und im ganzen Land müssen Schulen schliessen. Aber die politischen Entscheidungsträger diskutieren, wer nun eigentlich in der Verantwortung ist und welche Massnahmen als nächstes wohl angezeigt wären. Das wirkt etwa so, als würden die Einsatzkräfte vor einem brennenden Haus erst einmal eine Vernehmlassung durchführen. Das Problem ist sozusagen hausgemacht. Der Föderalismus ist seit der Gründung des Bundesstaates das bestimmende Organisationsprinzip der Schweizer Politik. Nicht umsonst ist es in der Bundesverfassung ganz weit vorn verankert. «Die Kantone sind souverän», heisst es gleich im dritten Artikel. «Sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.»

Was nach dem Sonderbundskrieg als ausgleichendes Element installiert wurde, treibt mitunter seltsame Blüten. Lange gab es in der Schweiz 26 verschiedene Strafprozessordnungen – jeder Kanton hatte seine eigene. Erst seit 2011 ist das Strafprozessrecht auf eidgenössischer Ebene geregelt. Inwieweit solche «Zentralisierungen» sinnvoll sind, darüber lässt sich streiten. Das Kompetenzgerangel zwischen den Staatsebenen ist vermutlich so alt wie der Bundesstaat selbst. Gerade die Corona-Pademie hat jedoch aufgezeigt, dass der Föderalismus mitunter an seine Grenzen stösst.

Einem Virus, das von Südafrika aus binnen Tagen jeden Punkt der Erde erreicht, ist der staatspolitische Aufbau der Schweiz herzlich gleichgültig. Trotzdem meint man hierzulande, sich Zeit nehmen zu können. Der Bundesrat macht Vorschläge, welche Schritte zur Bekämpfung er für sinnvoll hält. Und dann darf jeder Kanton und jeder Wirtschaftsverband erst einmal seinen Senf dazugeben. Als wäre die Pandemie keine nationale Aufgabe, sondern eine Herausforderung, auf die jede Regierung und jede Branche eigene Antworten finden könnte.

Diese Seelenruhe ist angesichts der Lage befremdlich genug. Verschlimmert wird das Bild durch die Kommunikation, die sich daraus ergibt. Der Gesundheitsminister macht mittlerweise aus seinem Genervtsein gar keinen Hehl mehr. Öffentlich zeigte Alain Berset diese Woche mit dem Finger auf die Kantone. Egal, ob es um die Schutzmassnahmen an Schulen geht, um den Schlendrian beim Boostern oder den versäumten Ausbau der Pflegekapazitäten: Der Bund ist fein raus, denn all das liegt – leider, leider – nicht in seiner Kompetenz.

Die Kantone jedoch, die gerne auf ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit pochen, wirken bei der Pandemiebekämpfung reihenweise überfordert. Beispielhaft zeigte sich das in den vergangenen Tagen im Kanton Bern, als es um den früheren Ferientermin an den Volksschulen ging.

Aus dem letzten Herbst weiss man, dass geschlossene Schulen das Infektionsgeschehen verlangsamen können. Kurz vor Weihnachten, da viele Schulen buchstäblich auf dem letzten Loch pfeifen, wäre es also sinnvoll gewesen, den Beginn der Winterferien vorzuverlegen. Tatsächlich kam der Regierungsrat irgendwann selbst auf diese Idee. Doch was geschah dann? Erst verkündete die Bildungsdirektion einen Ferienbeginn am 22. Dezember, und zwar so ungeschickt, dass Eltern und Lehrpersonen diesen Termin aus dem «Blick» erfuhren. Wenige Tage später – die Schulen hatten die Familien gerade über die Massnahme informiert – wurde der Ferienbeginn erneut vorverlegt. Nun soll es also der 18. Dezember sein. Wieder müssen also die Schulsekretariate Infoschreiben verschicken, und die Zeitungsredaktionen kommen kaum noch nach, das jeweils neuste Berner Feriendatum zu veröffentlichen.
Um die Verunsicherung auf die Spitze zu treiben, beginnen die Kantone nun auch noch, sich untereinander Vorwürfe zu machen. Am vergangenen Wochenende kritisierte Martin Bühler, der Chef des Bündner Corona-Krisenstabs, offen die Teststrategie der Berner Kantonsregierung. In Graubünden werden – anders als im Kanton Bern – an den Schulen regelmässige Massentests durchgeführt. «Wir bevorzugen es, hinzuschauen und rechtzeitig zu reagieren. So haben wir mit weniger Einschränkungen auch weniger Schaden», sagte Bühler im Interview mit dem «Sonntags-Blick». Deswegen seien im Kanton Graubünden eben auch die Schulen geöffnet – während sie in Bern reihenweise schliessen müssen.

Ein genervter Bundesrat, entscheidungsschwache Kantone, eine desolate öffentliche Kommunikation. Den corona-müden Bürgern wird so das Bild vermittelt: Die da oben können es nicht. Dabei könnten sie schon – wenn sie denn wollten.

Wenn der Bundesrat den Eindruck hat, die Kantone seien der Pandemiebekämpfung nicht gewachsen, sollte er nicht halb-beleidigt auf fehlende Zuständigkeiten hinweisen, sondern handeln. Die nötigen Instrumente dafür existieren, und mit dem Ja zum Covid-Gesetz hat das Volk dem Bundesrat schon zweimal den Rücken gestärkt.

Dasselbe gilt unter anderen Vorzeichen für die Kantone. Wer souverän sein will, darf auf diese Souveränität nicht nur pochen, er muss sie auch wahrnehmen. Wozu gibt es die Gesundheitsdirektorenkonferenz, wenn am Ende doch nur alle nach Bern starren und warten, was der Bundesrat beschliesst? Sicher, es ist bequemer, unangenehme Entscheide dem Bund zu überlassen – zumal damit nicht selten auch finanzielle Verpflichtungen einhergehen. Aber wer so vorgeht, braucht dann nicht zu klagen, dass ihm immer mehr Kompetenzen verlustig gehen.

Ist die Corona-Krise also auch eine Krise des Föderalismus? Nicht grundsätzlich, das zeigt schon der Vergleich mit zentralistisch regierten Staaten. Frankreich, das im Wesentlichen von Paris aus regiert wird, kam auch nicht besser durch die vergangenen Monate. Aber die Pandemie hat die Schwächen der föderalistischen Struktur offengelegt und tut es immer noch. Im Vergleich mit dem Tempo des Virus agieren die Staatsebenen häufig zu langsam und zu verzagt. Manchmal verhindern persönliche Eitelkeiten und Besserwisserei, dass das Notwendige getan wird. An solchen Punkten gilt es nachzubessern, politische Prozesse zu überprüfen, die Kommunikation zu verbessern – technisch, aber auch menschlich. Sich nach bald zwei Jahren immer noch mit der Jahrhundert-Krise herauszureden, kann dagegen keine Option sein. Man soll nichts beschwören, aber es ist gut möglich, dass die aktuelle Pandemie nur die Hauptprobe war für ähnliche Herausforderungen, die noch vor uns liegen. Und auch die müssen dann föderalistisch bewältigt werden.

Der grosse Napoleon Bonaparte war jedenfalls überzeugt, dass die Schweiz nur so funktionieren kann. Er habe lange über das Land nachgedacht, sprach der Kaiser 1802 in St. Cloud zu Vertretern der helvetischen Republik. Bei der Verschiedenheit ihrer Bestandteile sei er zur Überzeugung gelangt, es sei völlig unmöglich, der Schweiz eine einheitliche Struktur überzustülpen. Napoleons Fazit: «Alles führt euch zum Föderalismus hin.»

Analyse Mark Pollmeier Redaktion «Frutigländer»


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