Dürrenmatts kreativer Aufenthalt im Kiental
27.08.2021 Reichenbach, KientalGESCHICHTE Am 5. Januar 2021 wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden. In seiner Jugend hielt sich der Schweizer Dramatiker regelmässig in der Region auf – und wurde hier zu einem seiner bekanntesten Stücke inspiriert: «Der Besuch der alten Dame».
KATHARINA WITTWER
Die Pfarrfamilie Dürrenmatt aus Konolfingen verbrachte mehrmals ihre Sommerferien im Kiental. Wie oft und in welcher Ferienwohnung sie unterkam, ist nicht überliefert. 1941 schickte der Vater seinen Sohn Friedrich allein dorthin. Der – gelinde gesagt – mässige Schüler sollte sich dort in Ruhe auf die Maturaprüfung vorbereiten. Das Risiko durchzufallen, war nämlich gross.
«Vor Beginn meiner Studien zog ich mich für einige Wochen in ein Bergtal zurück, in ein kleines Bergdorf (Kiental) in der Mitte des Tals, an dessen Ausgang ein anderes, grösseres Dorf (Reichenbach) lag, von dem das Bergdorf durch einen steil ansteigenden Wald getrennt war.» Dieses Zitat stammt aus der 1953 begonnenen, Jahrzehnte später mehrmals überarbeiteten und erst Ende der 1970er-Jahre veröffentlichten, autobiografischen Novelle «Mondfinsternis». Hierin liess er Erlebnisse und Beobachtungen von damals einfliessen. Wie gross der Wahrheitsgehalt und wie viel seiner Fantasie entsprungen ist, sei dahingestellt.
Stammgast im «Bären»
Zeitzeugen erzählten, dass der junge Feriengast die Abende mehrheitlich in geselliger Runde im «Bären» verbrachte. Häufig ging es nach Wirtshausschluss in Ernst Zurbrüggs Backstube (bei «Begg's Ärnscht») hoch her. «[… ] oft, morgens um vier, nach einer wilden Zecherei in der Gaststube, zogen wir zum Gemeindepräsidenten, der Bäcker war und dessen Frau die Spezereihandlung führte. Der Bäcker setzte jedem, der mitgezecht hatte, in der Backstube acht Spiegeleier vor; dann, bei Sonnenaufgang, zog ich heimwärts oder schlenderte einen kleinen Bach entlang, das Tal aufwärts. […] Ich begann, auf diesem Spaziergang mehrere Stoffe zu konzipieren, unter anderem eine Komödie («Mondfinsternis»), an der ich noch jahrelang herumschrieb.»
Ein geheimnisvoller Gast sowie die Charaktere und das Leben der Einheimischen ergaben massenhaft Stoff für das literarische Werk Dürrenmatts. «Im Gasthof, der zugleich ein Hotel war, sass am Abend ein Engländer steif vor einer Flasche Rotem, um sich punkt zehn zu erheben, ohne an jemanden ein Wort zu richten; er sprach nicht Deutsch und wir sprachen nicht Englisch.»
Unheimlich inszenierter Mord
Der letzte Teil der «Mondfinsternis» spielt sich vollumfänglich im «Flötenbachtal» (Kiental) ab: Zur Winterzeit fährt im «Bären» ein kanadischer Gast namens Walt Lotcher mit einem Cadillac vor. Dabei handelt es sich um den einstigen Einheimischen Walter Locher. Weil ihm Döufu Mani vor 40 Jahren seine schwangere Geliebte, Zurbrüggens Klärli, ausgespannt hatte, war er ausgewandert und hatte es zu grossem Reichtum gebracht. Das Gespräch mit dem «Bären»-Wirt nimmt seinen Lauf, und spontan fasst Lotcher einen Entschluss: «Ich habe einst geschworen, mich zu rächen, ich erinnere mich jetzt auf einmal, und den Schwur halte ich.» Wird in der nächsten Vollmondnacht Döufu Mani getötet, erhält jede Familie von Lotcher eine Million Franken in bar. Erst stehen die Männer dem verlockenden Angebot skeptisch gegenüber. In der Hoffnung, ihrer Armut ein Ende zu bereiten, gehen sie den Pakt schliesslich doch ein. Auch das Opfer kommt zum Schluss, dass sich seine Söhne Landmaschinen und ein besseres Leben finanzieren könnten. «Nächster Vollmond sei übernächsten Sonntag, … am Samstag davor sei die Landwirtschaftliche Ausstellung in Oberlottikofen, die möchte er sich doch anschauen und vielleicht seine Buben, den Jöggu und den Alex, beraten, was sie sich für das viele Geld anschafften könnten, das sie dann erhielten, er denke sich immer, mit einem neuen Stall und mit einem Traktor wäre sein Leben ein ganz anderes gewesen.»
Während die Männer den Mord vorbereiten – Mani soll unter einer von allen Flötenbachern eingesägten Buche stehen und von ihr erschlagen werden –, verbringt Lotcher die Zeit im Hotelzimmer mit Schnaps und einigen jungen einheimischen Frauen.
Der Mord geschieht wie geplant in der nächsten Vollmondnacht bei gleichzeitiger Mondfinsternis. Das Geld wird ausbezahlt, und bald steigt der Reichtum den Flötenbachern zu Kopfe. Walt Lotcher reist ab – nicht ohne vorher zufällig seine einstige Braut, die Witwe Mani, zu treffen. Weit kommt er aber nicht.
Viele Parallelen, dennoch anders
1955 schrieb Friedrich Dürrenmatt die tragische Komödie «Der Besuch der alten Dame». Das Theaterstück hatte Anfang 1956 Premiere und wird noch heute erfolgreich aufgeführt. Die Aufzeichnungen aus der «Mondfinsternis» dienten dem Dichter als Grundlage. Gewisse Parallelen sind offensichtlich, anderes unterscheidet sich. War in der «Mondfinsternis» der Rückkehrer männlich, unangekündigt und der Racheakt eine spontane Eingebung, so wurde im Theaterstück aus Walt Lotcher die sehnlichst erwartete Claire Zachanassian, die ihre Rache exakt geplant hatte. Die Flötenbacher wurden zu Güllenern. Die Mordopfer waren in beiden Fällen männlich, nämlich Döufu Mani und Alfred III. Im Gegensatz zu Lotcher, der einem Herzinfarkt erliegt, reist Claire Zachanassian mit ihrem Gefolge ab. Gemeinsame Ausgangslage ist eine aussereheliche Schwangerschaft.
2007 verfasste Sophie Männel eine Studienarbeit zu Dürrenmatts «Mondfinsternis» und «Der Besuch der alten Dame». Vier Jahre später schrieb Lena Sauer (wahrscheinlich ebenfalls eine Deutsche) einen «Werkvergleich» als Facharbeit für die Schule (beide Büchlein sind im GRIN-Verlag erschienen).