Werden, leben und vergehen

«Ich wusste gar nicht mehr, wie schön der Herbst sein kann», jubelte letzthin meine Freundin, die nach einem längeren Aufenthalt in Ländern ohne Jahreszeiten heimgekehrt war. An einem schönen Herbstsonntag wanderten wir den Brienzersee entlang nach Ringgenberg. Die ersten Sonnenstrahlen holten den See aus seiner schwarzen Nachtstarre, brachten sein strahlendes Türkisblau ans Licht und liessen das lodernde Rot und Gelb der Blätter noch intensiver erstrahlen. Sonne und Schatten, Wärme und Kälte, Freude und Trauer stehen im Herbst ganz dicht beieinander – vielleicht weil man die wärmenden und leuchtenden Sonnenstrahlen im bunten Laub und auf der Haut als ein letztes Geschenk des Sommers in das beginnende kalte Winterhalbjahr mit seinen eisigen Farben mitnehmen will?
Schon bald verliessen wir das Seeufer, und immer steiler stiegen wir über stotzige Weiden, durch Laubwälder und auch mal einem finsteren Tannenwald dem Hardergrat entgegen. Wie so oft philosophierten wir über das Wunder Natur.
Die Tage werden kürzer, die Nächte länger, die Natur begibt sich in den Winterschlaf. Die Blätter verfärben sich, die Kühe weiden noch die letzten Grashalme ab, vereinzelt hört man noch eine Vogelstimme, vergessene rote Äpfel leuchten aus laubarmen Bäumen. Es heisst Abschied nehmen von der blühenden Natur, die uns den Sommer hindurch mit einer reichen Ernte aus Feldern, Gärten und dem Obstgarten verwöhnt hat. Wohlverdient legt sich die Natur zur Ruhe. Das Leben der Pflanzen hat sich aus dem sichtbaren bunten Sommerkleid zurück in die Wurzeln verzogen, Blätter, Stauden und Kraut verwandeln sich langsam wieder zu neuer reichhaltiger Erde, die Bäume ziehen alle Kraft in den sicheren Stamm bis zur Wurzel zurück. Auch in der Tierwelt wird es ruhiger, da das Nahrungsangebot im Winter stark reduziert ist. Es gibt Lebewesen, die begeben sich in ihre Winterruhe oder in einen Winterschlaf, andere fallen sogar in eine Winterstarre. Dazu suchen sie natürliche Lebensräume wie das Erdreich, verrottendes Laub, Asthaufen oder Trockensteinmauern auf. Darüber hinaus wird die Natur von einer dichten Schneedecke vor Frost geschützt, bereitet aber darunter bereits neues Leben vor. Im Frühjahr mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen strecken die Blumen neugierig ihre Köpfe aus dem Boden und das noch feine Blattwerk hüllt die Bäume mit einem feinen grünen Schleier ein. Die Tierwelt besiedelt und nutzt wieder die Landschaft mit ihrem neugierigen und verspielten Nachwuchs. Die Vögel kehren aus ihrem Winterquartier zurück und singen und tirilieren, um den geeigneten Partner für die Paarung zu finden, die Schmetterlinge schlüpfen aus ihrer Verpuppung – die Natur erwacht zu neuem Leben.
Leben – sterben ... Kommt da beim Betrachten der Natur nicht der Gedanke an eine Wiedergeburt auf? Aus Vergangenem entsteht neues Leben.

YVONNE SCHMOKER

YSCHMOKER@BLUEWIN.CH

BAUCHGEFÜHLE - Werden, leben und vergehen

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